Reinecke Fuchs

Reinecke Fuchs

Reinecke Fuchs (plattdeutsch Reinek Vos), das letzte selbständige, in Niederdeutscher Sprache gegen Ende des 15. Jahrh. verfaßte epische Gedicht, welches seinen Stoff aus der deutschen Thiersage schöpft. Es stellt den König der Thiere, den Löwen [10] Nobel, fortwährend von seinem Günstling, dem Fuchs Reinecke, betrogen dar; dieser begeht gegen alle Hofleute u. Unterthanen, gegen Braun den Bären, Lampen den Hafen, Isegrim den Wolf u. dessen Frau Geremuth, Hinz die Katze, Merkenau u. Scharfschnabel die Krähen, das Hündlein Wackerloos, Crasseroth den Hahn u. Henning dessen Frau etc. die größten Schändlichkeiten u. weiß sich bei ihren Klagen vor dem Könige nicht allein durch Lügen u. Verstellungen von der Strafe zu befreien u. diese in Schaden zu bringen, sondern wird auch am Ende noch mit hohen Ehren ausgezeichnet. Seine Freunde u. Vertheidiger sind sein Oheim Grimhart, sein Neffe. Grevink u. der Affe Martin, bes. dessen Frau. Die Thiersage war, wie aus mehr od. minder zahlreichen Spuren hervorgeht, allen Gliedern des Indogermanischen Stammes bekannt, gelangte aber zu vollständiger epischer Durchbildung nur bei den Deutschen u. vorzugsweise bei den Franken, mit denen sie nach den Niederlanden u. den benachbarten Theilen Frankreichs wanderte u. dort festen Fuß faßte, aber auch theils durch das dort ureinheimische celtische Element, theils von der in Frankreich noch vorhandenen römischen Bildung u. Kunstdichtung beeinflußt wurde. Der Stoff der Thiersage wurde bereits im 10. u. 11. Jahrh. von Geistlichen, welche in Lateinischer Sprache dichteten, zu didaktischen u. satyrischen Zwecken benutzt. Einige kürzere Stücke dieser Art (z.B. die Ecbasis captivi) hat Grimm in den Lateinischen Gedichten des 10. u. 11. Jahrh. (Gött. 1838) mitgetheilt. Mehr Fülle des Stoffs bieten einige andere spätere Darstellungen, vor allen der Isengrimus, welcher wahrscheinlich um Anfang des 12. Jahrh. von einem Geistlichen im südlichen Flandern verfaßt wurde, vielleicht aber nur Bruchstück eines größern Werks ist, u. der Reinardus, welcher etwa 50 Jahre später ebenfalls seinen flämischen Geistlichen Namens Nivardus zum Verfasser hat, u. außer einer Umarbeitung des Isengrimus (zwei Geschichten vom Wolfe enthaltend) noch zehn andere Geschichten. Letzteres viel umfangreichere Gedicht (6596 Distichen) wurde von Mone (Stuttg. 1832) herausgegeben, vgl. I. H. Borman, Notae in Reinardum Vulpem, Gent 1836 ff. In beiden lateinischen Dichtungen treten Nebenbeziehungen auf den Papst, das Kirchenregimens u. den mächtig aufblühenden Orden der Cistercienser deutlich hervor. Eine spätere, aber noch vor 1280 fallende Bearbeitung des Stoffs, die von einem Niederländer Namens Balduin herrührte, ist nur noch in einem einzigen alten Drucke (Reinardus vulpes, Utrecht 1473; im Athenäum zu Deventer) vorhanden, aber bis auf die neueste Zeit herab (herausgegeben von Campbell, Haag 1859) unbekannt geblieben; das Gedicht umfaßt 1851 Distichen. Während aus Deutschland sich aus jener Zeit keine Gedichtung dieses Kreises erhalten hat, aber hier überhaupt ziemlich erloschen gewesen zu sein scheint, erhielt sich die Sage im Munde des Volks auf flämischem u. französischem Boden freier von satyrischen u. didaktischen Zusätzen u. Nebenbeziehungen u. gestaltete sich bes. in Nordfranzösischer Sprache auch bald zu reinern epischen Dichtungen. Diese älteren u. echteren Dichtungen sind zwar verloren gegangen, bilden aber die Grundlage, auf welcher der Stoff noch vor dem Schluß des 12. Jahrh. in die Niederländische wie die Deutsche Literatur zurückgeführt wurde. In die Deutsche wurde es gebracht um 1170 durch Heinrich den Glichezäre (Gleißner), einen fahrenden Sänger aus dem Elsaß, von dessen Dichtung, die wahrscheinlich den Titel Isengrines nôt führte, aber nur zum dritten Theile erhalten ist (in I. Grimm's Sendschreiben an K. Lachmann über Reinhart Fuchs, Lpz. 1840). Die älteste bekannte niederländische, nach einem französischen Vorbilde gearbeitete Dichtung ist De Reinaert eines unbekannten Verfassers, welcher den epischen Charakter am reinsten festhält u. nach Anlage u. Ausführung alle übrigen Dichtungen übertrifft. Beide Werke erfuhren später durch unbekannte Dichter Überarbeitungen; eine deutsche aus dem Anfang des 13. Jahrh. ist im sogenannten Kolocsaer Codex fast vollständig erhalten (herausgegeben von Mailath im Koloczaer Codex, Pesth 1818; nebst mehren der bereits genannten Dichtung von I. Grimm, Berl. 1834). Eine niederländische fällt um den Schluß des 13. Jahrh., zeigt wieder einen starken Anflug von Satyre u. ist um einen zweiten Theil vermehrt Reinart de Vos (herausgegeben von Willems, Gent 1836, 2. Aufl. 1850; deutsch von Geyder, Bresl. 1844). In Frankreich waren im 12. u. 13. Jahrh. zwar viele epische Dichtungen über die Thiersage entstanden, doch reichen die ältesten der uns erhaltenen nur etwa bis zum Anfang des 13. Jahrh. hinaus. Der reinere epische Charakter, welchen dieselben in der Hauptsache noch zeigen, ging im Laufe der Zeit jedoch immer mehr verloren. Der Roman du Renart von Méon (4 Bde., Par. 1826; Supplements von Chabaille, Par. 1835) ist aus verschiedenen Bearbeitungen willkürlich zusammengestellt; der Renart li contrefet, von einem ungenannten Dichter aus der Champagne, nur theilweise gedruckt. Wie aus den übrigen chevaleresken Epen, gingen auch aus diesen Romans aus der Thiersage seit dem 15. Jahrh. die französischen Volksbücher von Renard hervor. In Deutschland fand die Thiersage bei den höfischen Dichtern wenig Gedeihen; die Volksdichtung berücksichtigte dieselbe nur in wenigen einzelnen Fabeln. In den Niederlanden hingegen verwandelte sich der erwähnte erweiterte Reinart, dem Geschmacke der Zeit folgend, in eine prosaische Erzählung De hystorie van Reinart de Vos (Gouda 1479), die alsbald durch den Buchdrucker u. Übersetzer William Caxton nach England (Westminster 1481) verpflanzt wurde. In den aus diesen beiden Werken geflossenen niederländischen u. englischen Volksbüchern erfuhr die Sage vielfach Verderbniß u. Verstümmlung. Außer dem Erwähnten war in Deutschland bis gegen Ende des 15. Jahrh. keine bedeutendere Bearbeitung des R. F. an das Licht getreten; doch kehrte sie jetzt zum zweiten Male, u. zwar zunächst aus den Niederlanden, dahin zurück. Die erwähnte ältere niederländische Prosa wurde von einem Niedersachsen, wie es scheint von Herman Barkhusen, Stadtschreiber u. Buchdrucker zu Rostock, nicht aber wie man bisher gewöhnlich annahm von Nikolaus Baumann (s.d.) selbst, in niederdeutschen Versen mit sicherm u. seinem Takt zu dem Reineke Vos umgestaltet, einer Dichtung, welche bei der öffentlichen Stimmung in Deutschland zur Zeit ihres Erscheinens um so größern Beifall finden mußte, je mehr sie, bes. im zweiten Theile, sich als Satyre auf das Thun u. Treiben der Gewalthaber, deren Vasallen u. Räthe, sowie auf das sittenlose u. ränkevolle Leben des höhern Klerus darstellte. Davon zeugen[11] schon die vielen Ausgaben, deren erste (Lübeck 1498, plattdeutsch, neuerdings bearbeitet von Karl Tannen, Bremen 1861) nur in einem einzigen Exemplare auf der Wolfenbütteler Bibliothek übrig ist; seit 1517 erschien der R. F. mehrmals zu Rostock. Einen Abdruck der Lübeker besorgte Hakemann (Wolfenb. 1711) u. darnach Gottsched (Lpz. 1752), sowie etwas verändert Bredow (Eutin 1798), Scheller (Braunschw. 1825), Scheltema (Haarlem 1826) u. Hoffmann von Fallersleben (Bresl. 1834, 2. Aufl. 1852). Über Verfasser u. Abfassungszeit s. Zarncke, in Haupts Zeitschrift für deutsches Alterthum, Bd. 9; Lisch, Geschichte der Buchdruckerkunst in Mecklenburg, Schwerin 1840, Anhang. In Oberdeutschland fand der R. weite Verbreitung durch Mich. Beuthers hochdeutsche Übersetzung (zuerst Frankf. 1544 u.ö.; stets als zweiter Theil zu Pauli's Schimpf u. Ernst), die wiederum von Hartmann Schopper in lateinische Verse gebracht (zuerst Frkft. 1567) u. so auch dem Auslande zugänglich gemacht wurde. Eine neue Anziehungskraft für das gegenwärtige Geschlecht erhielt der R. F. durch die Übertragung von Goethe (zuerst Berl. 1794) in Hexametern, an welche sich in jüngster Zeit wieder die trefflichen Zeichnungen von Wilh. von Kaulbach (Münch, 1847) anschlossen, Außerdem wurde der R. F. noch von Soltau (zuerst Berl. 1803) u. von Simrock (Frkft. 1845–52) im Versmaße des Originals, in kurzen Reimpaaren, übersetzt. In das Dänische kam der niederdeutsche R. F. durch Herm. Weiger (Lübeck 1555 u.ö.), durch Ungenannte in das Schwedische (in Versen, Stockh. 1621, in Prosa, 1775) u. auch in das Isländische. Neuerdings ist der R. F. auch in die meisten übrigen europäischen Sprachen übersetzt worden.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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