- Gerichtliche Arzneikunde
Gerichtliche Arzneikunde (Gerichtliche Medicin, Medicina forensis), die Anwendung, welche die Arzneikunde u. ihre Hülfswissenschaften auf die Rechtspflege erhält, indem sie dem Richter für rechtliche Entscheidungen Aufschlüsse ertheilt. Sie hat einen ungemessenen Umfang. Alles was in rechtlicher Entscheidung auf Leben, Gesundheit, Pflichterfüllung u. Besitz näheren od. entfernteren Bezug hat u. von der Art ist, daß die Bestimmung, wie es sich damit verhalte (der Thatbestand), naturwissenschaftliche Kenntnisse voraussetzt, also auch nur von einem derselben Kundigen glaubhaft ertheilt werden kann, gehört materiell in ihr Gebiet; vorzugsweise gewaltsame Verletzungen u. deren Tödtlichkeit, Todesarten durch Erstickung, Vergiftung etc., desgleichen Selbstmord, od. die Priorität des Todes unter mehreren zugleich todt Gefundenen, zweifelhafte Geburtsfälle, Mißgeburten, unreife Geburten, früh- od. spätreife Geburten, die Erstgeburt von Zwillingen, untergeschobene Geburten, todtgefundene neugeborene Kinder u. deren Todesarten, vorgeschützte od. verhehlte, od. angeschuldigte Krankheiten, Gemüthszustände, welche die Freiheit des Willens beeinträchtigen od. aufheben, das Alter eines Menschen, das Zeugungsvermögen, gesetzwidriger Coitus, körperliche Zustände aller Art, insofern daraus ein Recht, od. ein Unvermögen, od. gebotene Schonung hervorgeht, Ungebürnisse von Medicinalpersonen selbst etc. Außerdem hat aber die G. A. auch ihren formellen Theil, in Andeutung von dem, was bei einer gerichtlich physikalischen Untersuchung zur Legalität des Ortes wahrzunehmen, wer sie zu veranlassen, von wem sie vorzunehmen, welche Formalitäten nicht zu umgehen, wie die. Berichte über die Resultate der Untersuchung abzufassen sind etc. Auch hat sie einen technischen Theil, welcher dem gerichtlichen Arzt sein Verfahren andeutet, um dem Richter in der von ihm geforderten Auskunft Genüge zu leisten. Die G. A. hat sich erst in neuerer Zeit als ein eigener wissenschaftlicher Zweig ausgebildet u. erhielt ihre eigentliche Grundlage erst in. Kaiser Karls V. 1532 erlassener Halsgerichtsordnung durch die Bestimmung, daß über Tödtlichkeit der Wunden, Kindermord, Todtschlag, Vergiftung, Abtreibung der Leibesfrucht, verhehlte Schwangerschaft etc., zur Ausmittelung der Thatsache der Ausspruch der Ärzte, Chirurgen u. Hebammen erfordert werden soll. Erst am Ende des 16. u. im Anfange des 17. Jahrh. gewann indeß die G. A. zuerst in Italien u. Frankreich eine wissenschaftliche Gestaltung, wozu später vorzüglich Deutschland beitrug. Das gerichtsärztliche Personal besteht zunächst aus dem besonders für gerichtliche Untersuchungen angestellten u. besoldeten Arzte, od. auch, wie in Frankreich u. England, für den einzelnen Fall bes. requirirten u. verpflichteten Arzte (Gerichtsarzt, Physikus) u. Chirurgen; zugezogen werden noch Apotheker od. Chemiker, Hebammen u., für besondere Fälle aus der Thierheilkunde, Veterinärärzte. Vgl. Fortunatus Fidelis, De relationibus medicorum, Palermo 1602, deutsch durch Ammann, Lpz. 1674, auch 1679; Paul Zachias (s.d.) die erste große Sammlung medicinisch-gerichtlicher Fälle. Spätere Schriftsteller, bes. in Deutschland: P. Anunann, G. Welsch, J. F. Zittmann, M. B. Valentini, M. Alberti, H. F. Teichmeyer, J. E. Hebenstreit, A. v. Haller, Chr. C. Ludwig, I. Fr. Faselsus, I. D. Metzger, J. Th. Pyl, G. G. Plouquet, J. H. Knebel, G. C. H. Masius, Ad. Henke, C. F. L. Wildberg, W. F. W. Klose, I. H. Kopp, J. Bernt, L. J. C. Mende, Zieroth u.a. Wichtigste Lehrschriften: Mende, Ausführliches Handbuch der gerichtlichen Medicin, Lpz. 1819–32, 6 Bde.; Masius, Handbuch der G. A., vollendet von Klose, 2. Aufl. Stendal 1831–32, 2 Thle.; Engelmann, Medicin; Henke, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, 11. Aufl. Berl. 1845; Bergmann, Lehrbuch der Medicina forensis für Juristen, Braunschw. 1846; E. C. J. v. Siebold, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, Berl. 1846 f.; Schürmayer, Gerichtlich-medicinische Klinik, Bielef. 1846; Krahmer, Handbuch der Gerichtlichen Medicin, Braunschweig 1857.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.