Guizot

Guizot

Guizot (spr. Gifoh), 1) François Pierre Guillaume, geb. den 4. Oct. 1787 zu Nismes im französischen Departement Gard, Sohn eines Advocaten, der in der Revolution (1794) hingerichtet wurde. G. selbst Protestant, wurde seit 1794 in Genf erzogen, studirte auch daselbst u. ging 1806 nach Paris, wo er an dem Schweizer Gesandten Stapfer einen väterlichen Freund fand. Mit Elisabeth Pauline de Meulan bekannt geworden, arbeitete er in dem von derselben herausgegebenen Publiciste u. heirathete sie 1812, wurde auch in diesem Jahre Professor der neueren Geschichte an der Universität. Seine politische Laufbahn beginnt mit der ersten Restauration der Bourbonen; er wurde Geheimsecretär Montesqnions, damals Minister des Innern, u. Censor. Nach der Rückkehr Napoleons am 20. März 1815 wurde G. seiner Stelle enthoben, reiste nach Gent zu Ludwig XVIII. u. schloß sich diesem an. Nachdem Ludwig XVIII. wieder auf den Thron gelangt war, wurde G. Generalsecretär des Innern u. später Generalsecretär der Justiz, als aber im folgenden Jahre der Justizminister Barbé Marbois zurücktrat, nahm auch G. seine Entlassung, wurde aber bald darauf zum Requetenmeister u. später zum Staatsrath ernannt. In Folge seiner Denkschrift über die damaligen Zustände der Kammern wurde G. Anfangs 1819 Generaldirector der Communen u. Departementsverwaltungen. Nach dem Tode des Herzogs von Berry 1820 kam in Frankreich die ultraroyalistische Partei an die Spitze der Verwaltung, u. G. wurde von der Staatsrathsliste gestrichen. Er begann als Professor seine Vorlesungen wieder, trat auf die Seite der Opposition u. schloß sich der Schule der Doctrinärs an. Nachdem er schon 1822 durch das Aufheben der Normalschule seine Lehrerstelle an derselben verloren hatte, wurden ihm auch, da dem Ministerium seine Richtung mißfiel, 1824 seine Vorlesungen bei der Faculté des lettres untersagt, u. er beschäftigte sich nun mehrere Jahre lang nur schriftstellerisch. 1827 wurde er Präsident der Gesellschaft Aide-toi et le ciel t'aidera u. stiftete eine parlamentarische Coalition gegen Molé. 1828 erlaubte ihm der Minister Martignac seinen Cursus als Professor der Geschichte wieder zu beginnen, u. die im April d.i. eröffneten Vorlesungen über neuere Geschichte verschafften ihm einen glänzenden Erfolg; aus ihnen gingen seine so viel gelesenen geschichtlichen Werke hervor. Anfangs März 1829 wurde er wieder in den Staatsrath eingeführt u. im Januar 1830 trat er für die Stadt Lisieux (Departement Calvados) in die Deputirtenkammer. Durch die Julirevolution wurde er ein Mann von großer politischer Bedeutung. Die Protestation vom 27. Juli 1830 gegen die königlichen Ordonnanzen war von ihm redigirt worden; am 30. Juli wurde er provisorischer Minister des Unterrichts u., nach Ernennung des Herzogs von Orleans zum Regenten, am 11. August Minister des Innern, was er bis November 1830 blieb; darauf trat er wieder als Vertreter von Lisieux in die Deputirtenkammer, gehörte dort erst der Linken, unter Cas. Periers Ministerium 1831 aber dem Centrum an. Am 11. October 1832 wurde er Minister des öffentlichen Unterrichts, wirkte als solcher für die Verbesserung der Unterrichtsanstalten u. für das Gemeinwohl Frankreichs auf das Thätigste u. trat erst 1836 von demselben ab; doch schon den 6. September 1836 bildete er mit Molé ein neues Cabinet u. wurde wieder Minister des Unterrichts, schied aber in Folge von Differenzen im April 1837 mit den übrigen Doctrinärs aus demselben. Er neigte sich nun eine Zeit lang der demokratischen Fraction von Odilon Barrot zu, wurde aber unter dem Ministerium Soult im Febr. 1840 Gesandter in London u. trug dort, als die anderen Mächte den[772] Julivertrag 1840 vorbereiteten, bei der Weigerung des Ministeriums Thiers, diesem beizutreten, durch kluge Unterhandlungen viel dazu bei, den Frieden zu erhalten. Nach Thiers' Rücktritt übernahm er die auswärtigen Angelegenheiten in dem neuen Ministerium vom 28. October 1840, an dessen Spitze Soult stand, u. als Soult 1847 sich gänzlich von den Staatsgeschäften zurückzog, wurde G. am 9. September zum Chef des Ministerraths ernannt, s. Frankreich (Gesch.) XI. Sein Verhalten dem Auslande gegenüber, sein Einwirken auf die departementalen Angelegenheiten, die Verordnungen gegen die Lehrfreiheit, die unter seiner Verwaltung genugsam offenbar gewordenen Bestechungen u. Ungehörigkeiten bei den Wahlen, so wie die von niederen u. höheren Beamten begangenen Unredlichkeiten u. Veruntreuungen waren die Quelle des Unmuths in der öffentlichen Meinung, welche den Ausbruch der Februarrevolution 1848 beschleunigten. G. reichte am 16. Februar seine Entlassung ein, die der König jedoch nicht annahm; nach der Katastrophe vom 22. u. 23. Februar (s. Frankreich, Gesch. XI.) flüchtete G. am Morgen des 24. Febr. aus Paris u. ging nach London. Zwei Tage später sprach der Appellhof zu Paris G-s Versetzung in den Anklagestand u. zugleich dessen Verhaftung aus; er wurde von den Organen der republikanischen Regierung steckbrieflich verfolgt, aber im November d.i. vom Gerichtshof in Paris freigesprochen. Während seines Aufenthalts in England beschäftigte er sich mit literarischen Arbeiten. Im April 1849 bewarb er sich von England aus, wohl vergeblich, um eine Volksvertreterstelle. Im November d.i. kehrte er nach Paris zurück u. fand sich bald in den Salons der Gräfin Lieven wieder ein, wo er mit den Stimmführern der Orleanisten u. Legitimisten, Molé u. Berryer, zusammentraf. Die 1850 sich bildende Fusion, welche den Zweck hatte, die Orleanisten mit den Legitimisten auszusöhnen, um die Bonapartisten vereint zu bekämpfen, wurde nach seinem Eintritt thätiger; 1851 wurde er die hervorragendste Persönlichkeit dieser mehr legitimistischen als orleanistischen Fraction u. betheiligte sich lebhaft bei der Redaction ihres Organs, der Assemblée nationale. Seit der Errichtung des Kaiserthums ist G. vom politischen Schauplatz fast gänzlich zurückgetreten u. nur noch schriftstellerisch thätig. Im Januar 1654 wurde er Präsident der Pariser Akademie der moralischen u. politischen Wissenschaften. Er schr.: Dictionnaire des synonymes de la langue française, Par. 1809, 2 Bde., 4. Aufl. ebd. 1848; De l'état des beaux arts en France et du Salon, ebd. 1811; De l'Espagne, ebd. 1811, 2 Bde.; Annales de l'éducation, ebd. 1811–15, 6 Bde.; Vie des poètes français du siècle de Louis XIV., ebd. 1813; Idées sur la liberté de la presse, ebd. 1814; Du gouvernement représentatif et de l'état actuel de la France; ebd. 1816; Essai sur l'hist. et sur l'état actuel de l'instruction en France, ebd. 1816; Du gouvernement de la France depuis la restauration et du ministère actuel, ebd. 1821; Des conspirations et de la justice polit., ebd. 1821, Brüssel 1845; Des moyens de gouvernement et d'opposition dans l'état actuel de la France, Par. 1821, Brüssel 1846; De la peine de mort en matière politique, Par. 1822; Collection des mémoires relatifs à l'hist. de la révolut. d'Angleterre, ebd. 1823 ff., 26 Bde.; Essais sur l'hist. de France, ebd. 1824, 7. A.; Collection des mém. relatifs à l'hist. de France depuis la fondation de la monarchie jusqu'au 13. siècle, ebd. 1824, 30 Bde.; Hist. de la révolut. d'Angleterre depuis l'avénement de Charles I. jusqu'à la restauration de Charles II., ebd. 1827, 4. A. 1845; Hist. génér. de la civilisation en Europe depuis la chute de l'empire romain jusqu'à la révolution franç., ebd. 1828, 5. A. 1845; Hist. de la civilis. de France, ebd. 1828, 4 Bde., 5. A. 1845; Cours d'histoire moderne, ebd. 1828–1830; Mit Le Presbytére: Au bord de la mer, ebd. 1830; Rome et ses papes, ebd. 1830; Le ministère de la réforme et le parlement réformé, ebd. 1833; Monk (Etude historique), ebd. 1837; De la religion dans les sociétés modernes, ebd. 1838; Vie, correspondance et écrits de Washington, ebd. 1839 f., 2. Bd.; Madame de Rumford, ebd 1841; Discours prononcés de 1840 à 1846 sur les relations de la France et de l'Espagne, ebd. 1846; De la démocratie en France, ebd. 1849; Discours sur l'histoire de la révolution d'Angleterre, ebd. 1850; Monk, Chute de la république et rétablissement de la monarchie en 1660, ebd. 1850; Washington, Fondation de la république des Etats Unis d'Amérique, ebd. 1850; Etudes biographiques sur la révolution d'Angleterre, ebd. 1851, 1. Thl.; Meditations et études morales, ebd. 1851; Shakespeare et son temps, 1852; Histoire de la république d'Angleterre et de Cromwell, ebd. 1854, 2 Bde.; Mémoires pour servir à l'histoire de mon temps depuis 1814 jusqu'à 22. Février 1848, Par. u. Lpz. 1656 ff. Auch gab er den Shakespeare nach Letourneurs Übersetzung, ebd. 1821, heraus, wie er schon 1812 den Gibbon herausgegeben hatte, lieferte auch zu dem Museum berühmter Protestanten das Leben Calvins. Die 1820–22 gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte des Ursprungs der Repräsentativverfassung erschienen in neuer Aufl. 1851, 2 Bde. 2) Elisabeth Charlotte Pauline, geb. de Meulan, geb. am 2. November 1775 zu Paris, die Tochter des Obereinnehmers der Finanzen de Meulan; durch die Revolution ihres Vaters u. Vermögens beraubt, erwarb sie für sich, ihre Mutter u. Geschwister durch literarische Arbeiten den Lebensunterhalt. 1812 wurde sie Gemahlin des Vorigen u. st. den 1. Aug. 1827. Sie war Mitarbeiterin am Publiciste, an den Mélangues littéraires, Archives littéraires, Archives philosophiques, politiques et littéraires u. Annales d'éducation; schr.: Les enfants, Par. 1812, 2 Bde., 7. Aufl. 1844; L'Ecolier, ou Raoul et Victor (Preisschrift), ebd. 1821, 4 Bde., 8. Aufl. 1844; Scaramouche; Un premier jour de collége; Le petit Dominique, ebd. 1836 u. 1838; die Jugendschriften: Récréations morales, 7. Aufl. ebd. 1644; Nouveaux contes, 1823, 2 Bde., 7. Aufl. 1644; Une famille, 1828, 2 Bde. (fortgesetzt durch Amalie Tastu, 6. Aufl. 1844); Edouard et Eugénie; Les petits brigands; La vieille Geneviève; Aglaé, ou les Tracasseries; Hélène; Ju lie, ou la morale de Madame Croque-Mitaine; Nadir, Le double serment; L'arbre et la forêt; [773] La nuit du jour de l'an; La bonne conscience; Le devoir difficile; Emilie et Laurette; La robe de toile; La petite fille pressée, Ah! si j'étais fée! Le chapeau; Cécile et Nanette; Jules, ou le jeune précepteur; Armand, ou le petit garçon indépendant; M. de chevallier Aye! aye! aye! Le Rêve; Le pauvre José; Le curé de Chavignat; Histoire d'un louisd'or; Eudoxie, ou l'orgueil permis; La pauvre Françon; Le secret du courage; Marie, ou la Fête-Dieu; La mère et la fille; Le jour de naissance; L'improvoyance; welche sämmtlich 1837 u. 1840 wieder gedruckt worden sind; Lettres de famille sur l'éducation (Preisschrift), 1826, 2 Bde., 3. Aufl. 1840; Conseils de morale, herausgegeben von Ch. de Remusat, 1828, 2 Bde. 3) Marguerite André Elisa, geb. Dillon, zweite Gemahlin von G. 1), die Nichte der Vor., geb. am 30. März 1804, st. den 11. März 1833. Sie schrieb mehrere anonyme Artikel für die Revue française, gab 1828 einen Band Erzählungen in Prosa u. Versen u. später eine Jugendschrift, darin zwei Erzählungen: Caroline, ou l'effet d'un malheur, u. La générosité, heraus, von letzter erschien 1840 eine neue Ausgabe.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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