Geisteskrankheiten

Geisteskrankheiten

Geisteskrankheiten (Geistesverwirrung, Geisteszerrüttung), Krankheiten, bei denen die Thätigkeiten des Geistes u. Gemüthes andauernd u. gewöhnlich ohne Fieber so gestört sind, daß der daran Leidende des freien Gebrauches der Vernunft, des Verstandes u. des Willens in mehr od. weniger ausgedehnter Weise beraubt ist u. demgemäß verkehrt spricht u. handelt; sie sind selten rein psychischer Natur, meist auch mit aus körperlichen Störungen, vorzüglich des Gehirns u. Nervensystems, der Unterleibs- od. Geschlechtsorgane etc. erwachsend, oft auf falschen Wahrnehmungen od. Sinnestäuschungen beruhend, oft erblich, sehr schwer heilbar, nicht selten kürzere od. längere Nachlässe (Intervalla lucida), bisweilen auch schnell vorübergehende Anfälle (Raptus), leicht Rückfälle bildend u. bei fortschreitender Cultur mehr überhand nehmend. Man unterscheidet A) den Blödsinn, s.d. B) Melancholie (Melancholia), ergreift vorzüglich die gemüthliche Seite u. gibt sich zu erkennen durch eine einseitige Richtung der Vorstellungen u. Empfindungen auf gewisse, das Gemüth mit Trauer, Angst u. eitler Besorgniß erfüllende, völlig leere, od. doch nur zum Theil einen wahren Anstrich besitzende, durch verkehrtes Urtheil getrübte Einbildungen, bald das körperliche Wohl, bald die äußeren Verhältnisse etc. des Kranken betreffende, mit in Bezug auf diese verkehrte Handlungen, begleitet von großer Neigung zum Trübsinn, zur Einsamkeit, Gleichgültigkeit gegen die Außenwelt, Unthätigkeit, Angst, Furcht, Unruhe, Versinken in Gedanken, Mißtrauen, Heimtücke, Menschenscheu, selbst Menschenhaß, Lebensüberdruß, Verzweiflung, Neigung zum Selbstmord, oft auch Verweigerung der Nahrung, großer Unempfindlichkeit gegen Arzneien, Schlaflosigkeit od. unruhigem Schlaf, Hagerkeit od. Gedunsenheit des Körpers, meist Kälte der äußeren Extremitäten u. erdfahlem Ansehen der Haut. Wichtigste Arten: a) die starre Melancholie (M. attonita), wobei die Kranken so in sich versunken sind, daß alle Theilnahme für die Außenwelt verloren gegangen zu sein scheint, daß sie auf nichts hören, antworten, nichts annehmen, in einer Stellung verharren etc.; b) die religiöse Melancholie (M. religiosa), wobei einreligiöser Wahn vorherrscht, z.B. die Furcht vor ewiger Verdammniß, od. Verkehr mit Geistern, Besessensein, Gespenstersehen (Daemonomania); c) die verliebte Melancholie (M. amatoria, Erotomania), wo eitle, meist nicht sinnliche u. ihren Gegenstand nicht zu erreichen fähige, od. überhaupt übertriebene, ins Abenteuerliche fallende Liebe bethört; d) die phantastische Melancholie (M. phantastica), wo grundlose Einbildungen, z.B. die aus Glas zu bestehen, vorwalten; e) die englische Melancholie (M. anglica), vorzüglich in England vorkommend (Spleen), meist eine Tochter des Überflusses u. der Langenweile, mit Lebensüberdruß[86] ohne einen Grund; f) die herumirrende Melancholie (M. errabunda). wo die Kranken sich unstät in Einöden, auf Kirchhöfen umhertreiben, sich dabei oft wie Thiere, Wölfe (Lycanthropia) etc., in die sie verwandelt zu sein glauben, betragen; g) das Heimweh, s.d. Wichtigste Ursachen der Melancholie: das melancholische u. melancholisch-cholerische Temperament, zu große Ausbildung u. Empfindlichkeit der Gemüthsseite bei Schwäche des Verstandes, der Vernunft u. des Willens, übermäßige Anstrengung der Geisteskräfte, vorzüglich bei Mangel an Interesse für den Gegenstand od. an Talent mit ausschließlicher Richtung auf einen, zu viele Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper u. das eigene Wohl, Leidenschaften, sinnliche Ausschweifungen, Onanie, unglückliche Liebe, Gehirn- od. insbesondere Unterleibsleiden, Hypochondrie, das Wochenbett. Die Melancholie verläuft in der Regel chronisch, selten acut u. geht nicht selten in Manie, bisweilen auch in Blödsinn, Epilepsie, Lähmung etc. über u. tödtet durch Apoplexie, Auszehrung, Wassersucht etc. C) Manie (Mania, Tobsucht); hier braust der Kranke in einem hohen Grade von Aufregung auf, unter rascher Folge falscher u. verwirrter Vorstellungen, Mangel an Aufmerksamkeit auf seine Umgebungen, großer Unempfindlichkeit gegen äußere Reiz- u. Arzneimittel, ungestümer Willensthätigkeit, verbunden mit ungemeiner körperlicher Kraft, schwatzt, schreit, heult, jammert, lacht, singt, spuckt um sich, springt u. tobt wild umher, spricht für sich, flucht, zankt, droht, wüthet, schlägt, zerstört, ja begeht selbst Mord u. ist dabei höchst schamlos, unreinlich; bisweilen quält ein stiller Jammer mit ruhigem Murmeln (Mania mussitans). Die Manie macht gewöhnlich längere Nachlässe, in denen die Kranken entweder mehr od. weniger geistesgesund sind, od. an Blödsinn od. Melancholie leiden, in welche sie leicht übergeht. Ursachen: das cholerische u. sanguinische Temperament, Krankheiten u. Verletzungen des Kopfes, Sinnlichkeit u. Leidenschaftlichkeit, heftiger Geschlechtstrieb, Trunksucht, unglückliche Liebe u. Ehe, Starrsinn, verfehlte Hoffnungen, unterdrückte Blutflüsse u. andere Krankheiten, Krankheitszustände des Unterleibes, das Wochenbett; betrifft vorzüglich das jugendliche u. kräftige Mannesalter. Der Tod erfolgt am gewöhnlichsten durch Schlagfluß, Erschöpfung, Abzehrung. D) Wahnwitz (Moria, falsche Melancholie), Schwäche des Verstandes bei überwiegender Einbildungskraft, wobei die Vorstellungen der Außenwelt u. Wirklichkeit nicht entsprechen, sondern verkehrt, oft lächerlich sind, mit übereiltem, rastlosem u. verworrenem Ideengange, zwecklosem, taktlosem, ungereimtem, kindisch läppischem Reden u. Handeln, Übergeschäftigkeit, grundloser Freudigkeit. Sorglosigkeit u. Zufriedenheit mit sich u. der Außenwelt, bald in wechselndem Gedankenstrudel sich bewegend, bald an einzelnen Ideen, od. an einer fixen Idee hängend, worin gewöhnlich ein Wahn des Stolzes od. der Eigenliebe vorherrscht, nicht selten ohne besonderes körperliches Leiden. Die Ursachen sind weniger körperlicher Art, als bei anderen Geisteskrankheiten u. liegen in ursprünglicher Beschränktheit od. Mangel an fester Haltung der Geisteskräfte, mit vorherrschender Ausbildung u. Beschäftigung der Phantasie u. Sinnlichkeit auf Kosten des Verstandes, Grübelei, Empfindelei, dichterischer od. philosophischer Schwärmerei, übermäßiger Anstrengung der Geisteskräfte, Gehirnleiden, vorausgegangener Manie der Melancholie, Leidenschaftlichkeit verschiedener Art, vorzüglich Eitelkeit, Stolz, Onanie, Wollust etc.; geht leicht in Blödsinn über. E) Monomanie (Monomania, partielles Irrsein, fixer Wahn), nach Esquirol eine solche Seelenstörung, welche sich nur auf einen od. wenige Gegenstände bezieht, während die Erkenntnißkraft übrigens nicht gestört ist. Die Gegenstände, um die sie sich bewegt, sind bald heitere, bald traurige, meist beruht sie auf gewissen Leidenschaften, Trieben u. Vermögen, Hang zur Brandstiftung, zum Menschenmord u. Diebstahl. Die Monomanie kommt als sich um einen Gegenstand bewegendes Leiden nicht nur höchst selten vor, sondern gehört dann auch meist bald der Melancholie od. der Narrheit, bisweilen auch der Manie an. Das Irrsein kann bisweilen auch so verborgen sein, daß der Kranke seine Zerrüttung nicht blicken läßt, bis er auf einmal durch dasselbe zu irgend einer gefährlichen Handlung, Mord, Brandstiftung etc., verleitet wird (Amentia occulta). Auf ähnliche Weise hat man auch eine schnell vorübergehende, jedoch noch streitige Geistesstörung (Mania sine delirio) aufgestellt, wo der Kranke sowohl vor, als auch nach dem Anfalle des Gebrauches seiner Vernunft u. Freiheit in der Art mächtig gewesen sein soll, daß er nicht nur keine Spur von Irrsein verrieth, sondern selbst im Anfalle das Bewußtsein u. die Vernunft nicht od. nur schwach gestört waren, so daß derselbe mehr einem vorwaltenden Triebe folgte.

Die Heilung ist unter den einzelnen Geisteskrankheiten noch am meisten bei der Manie, am seltensten beim Blödsinn zu erwarten, der daher auch für die meisten Fälle mehr ein Gegenstand der Erziehung u. Diätetik ist. Die höchst schwierige Behandlung der G. ist theils eine psychische, theils eine arzneiliche. Jene hat die Ablenkung des Kranken aus seinem Ideenkreise durch angemessene Beschäftigung u. Zerstreuung, streng geregelte Lebensweise, Entfernung aus dem gewöhnlichen Lebenskreise, am besten in eine Irrenanstalt, Anregung der dem leidenden Seelenvermögen entgegengesetzten zum Zwecke. Dem Wahne des Kranken darf nicht sowohl durch reizenden, offenen Widerspruch, sondern mehr auf dem Wege ruhiger od. überraschender Überzeugung entgegengetreten werden, so wie überhaupt der Arzt den Kranken mehr durch Milde u. Klugheit zu beherrschen suchen muß. Die barbarische Strenge früherer Zeiten ist mit Recht aus der Irrenbehandlung entfernt. Für Unbändige u. Ungehorsame reicht gewöhnlich als Zwangs- u. Strafmittel die Zwangsjacke aus. Nie darf der Kranke ohne Aufsicht u. der Gefahr ausgesetzt sein, sich od. anderen zu schaden. Die wichtigsten Heilmittel sind allgemeine u. örtliche Blutentziehungen, vorzüglich bei neu entstandener Krankheit, bei Vollblütigkeit, Andrang des Blutes nach dem Kopfe, insbesondere bei Manie (dann aber schon mit mehr Vorsicht), bei Melancholie ferner allgemeine Bäder, insbesondere lauwarme, kalte Umschläge aus Wasser od. Eis auf den Kopf, kalte Douche- od. Regenbäder od. Übergießungen, am besten im lauwarmen Bade, Brechmittel, ganz vorzüglich auch die Ekelcur, Abführungsmittel, von denen in früherer Zeit vorzüglich die drastischen, wie die schwarze u. weiße Nießwurz[87] u.a. berühmt waren, die aber vor den milderen keinen unbedingten Vorzug haben u. wegen ihrer heftigen Wirkung Vorsicht erfordern, ferner äußere Reiz- u. Ableitungsmittel, wie Vesicatorien, Fontanelle, das Haarseil, die Brechweinsteinsalbe, das Glüheisen; von innerlichen Mitteln sind noch zu nennen: Digitalis, Campher u. narcotische Mittel, welche letzteren indeß auch leicht nachtheilig werden können. Die Drehmaschinen sind als unzweckmäßig wieder aus dem Heilapparat entfernt worden. Große Rücksicht erfordert der Zeitraum der Wiedergenesung, u. auch nach erlangter Genesung ist die Sorge wegen Rückfällen nie aus den Augen zu setzen.

Von größtem Einflusse sind die verschiedenen Arten der G. auf dem Rechtsgebiete. Die allgemeine Regel, von der dabei auszugehen ist, besteht darin, daß bei dem Vorhandensein einer G. der rechtliche Wille des Individuums als insoweit aufgehoben, der Mensch sonach als rechtlich willenlos gilt. Woher die G. dabei rührt, ist im Ganzen gleichgültig; es genügt, daß die G. vorhanden ist; doch muß die G. auch wirklich einen solchen Grad erreicht haben, daß sie eine Ohnmacht, den Willen zu beherrschen, begründet. Bloße Beschränktheit des Geistes u. Schwachsinn können daher den G. in dieser Hinsicht nicht gleichgestellt werden, wenngleich in mehreren Rechtstheilen, wie z.B. im Civilrecht bei der Restitutio in integrum (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, s.d.) u. im Criminalrechte hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit (s.d.) Menschen, die hieran leiden (Stupidi, Simplices) deshalb ebenfalls begünstigt sind. Ebendeshalb ist bei der Monomanie zu unterscheiden, ob der falsche Wahn das Seelenvermögen bereits ganz eingenommen hat od. nicht; im letzteren Falle kann immer noch der Irre als rechtlich handlungsfähig betrachtet werden, wenn sich nachweisen läßt, daß die von ihm vorzunehmenden od. begangenen Handlungen mit dem gefaßten Wahn in gar keinem Zusammenhange stehen. Aus gleichem Grunde kommt das Vorhandensein der G. rechtlich dann nicht bei Demjenigen in Betracht, was in lichten Zwischenräumen (Dilucida intervalla) geschehen ist. Bei der Schwierigkeit aber, welche es fast überall hat, dergleichen Zustände richtig zu beurtheilen, muß der Richter immer das Urtheil der Ärzte als Sachverständige zu Hülfe nehmen. Im Einzelnen ist für die verschiedenen Rechtstheile noch Folgendes zu bemerken: a) das materielle Civilrecht anlangend, war es schon Grundsatz des Römischen Rechtes, welches auch in das Gemeine Recht übergegangen ist, daß der Wahnsinnige weder Rechte erwerben, noch aufgeben kann, in wie weit dazu eine eigene Willenserklärung von Seiten desselben erforderlich sein würde; seine Handlungen gelten als nichtig. Um hier eine Aushülfe zu schaffen, wird der Geisteskranke unter Vormundschaft gestellt, welche nach Römischem Rechte aber nur eine Curatel, nicht eine Tutel (s.u. Vormundschaft) war. Bevor aber zur Stellung unter Vormundschaft wegen G. geschritten wird, soll jedesmal eine genaue Untersuchung (Causae cognitio) Statt finden. Über die Erfordernisse u. die Form, welche dieser Untersuchung zu geben ist, das sogenannte Interdictionsverfahren, enthalten meist die Particularrechte genauere Vorschriften. Der Vormund hat den Geisteskranken dann in derselben Weise zu vertreten, wie einen rechtlich Abwesenden u. es kommen dem Geisteskranken dabei dieselben Rechtswohlthaten, wie bei Minderjährigen (Jura minorum) zu Gute. Der Wahnsinnige selbst aber kann weder Eigenthum od. andere dergleichen Rechte durch Tradition erwerben, noch Verträge irgendwelcher Art mit Rechtsverbindlichkeit abschließen. Aus diesem Grunde ist der Wahnsinnige natürlich auch unfähig, eine Ehe einzugehen; ja der eine Theil kann im Falle eines eintretenden Wahnsinnes des andern Theils von dem Eheverlöbniß zurücktreten. Tritt der Wahnsinn dagegen erst nach erfolgtem Abschluß der Ehe ein, so bildet derselbe nach strengerer Auffassung keinen Ehescheidungsgrund, obgleich neuere Landesgesetze (s.u. Ehescheidung) hiervon abweichen. Die G. hebt ferner auch die Fähigkeit, ein Testament zu machen, auf, u. ebenso wenig kann der Geisteskranke bei Errichtung eines anderen Testamentes als Zeuge fungiren. In dem Römischen Rechte findet sich dafür die Quasipupillarsubstitution eingeführt; es ist den Ascendenten verstattet, daß sie ihren wahnsinnigen Descendenten, wenn sie ihnen nur den Pflichttheil hinterlassen, ein Testament errichten können, vorausgesetzt, daß sie den Testamentserben aus den Kindern od. in Ermangelung derselben aus den Geschwistern des Wahnsinnigen nehmen (s.u. Substitution). Fällt dem Wahnsinnigen eine Erbschaft zu, so kommt nach Römischem Recht es darauf an, ob der Wahnsinnige ein Suus heres ist od. nicht. Im ersteren Falle erwirbt derselbe sofort, weil die Sui heredes (s.u. Erbrecht) zum Erwerb nicht erst einer besonderen Acquisitionshandlung bedurften; im anderen Falle ist der Curator nur berechtigt, den Besitz der Güter (Bonorum possessio) mit der Wirkung nachzusuchen, daß dann aus dem Erbvermögen zwar die nöthigen Alimente bezogen werden dürfen, ohne daß sie jemals ersetzt zu werden brauchen, daß aber, wenn der Wahnsinnige selbst nicht wieder zum Gebrauch seiner Verstandeskräfte u. demnach nicht in die Lage gelangt, sich selbst über die Annahme der Erbschaft entscheiden zu können, alsdann das Erbvermögen bei seinem Tode an diejenigen zurückfällt, welche zu dieser Zeit ohne ihn das nächste Recht zur Erbfolge haben. Stiftet ein Wahnsinniger einen Schaden, so hat dies für den Verletzten als Zufall zu gelten; eine mittelst Klage zu verfolgende Ersatzpflicht aus dem Vermögen des Wahnsinnigen kann nicht angenommen werden, wenn nicht der Beschädigte auf sonst einem Wege, z.B. durch Retention, sich zu sichern weiß. Fällt aber dem Aufseher über ihn etwa eine Nachlässigkeit zur Last, so kann allerdings gegen diesen auch geklagt werden; ebenso wie ein solches Klagrecht auch auf Herausgabe von Sachen besteht, welche der Wahnsinnige etwa aus fremden Gewahrsam genommen haben sollte. Dem Ascendenten u. Descendenten des Wahnsinnigen liegt die Pflicht ob, sich desselben in seinem unglücklichen Zustande anzunehmen; entziehen sie sich dieser Pflicht, so ist der Wahnsinnige berechtigt, im Falle der Genesung dies zu einer gültigen Enterbungsursache zu benutzen. b) Für den Civilproceß versteht es sich von selbst, daß ein Geisteskranker weder richterliche Functionen ausüben, noch als Gerichtsschreiber dienen, noch als Zeuge od. Sachverständiger fungiren, noch als Partei irgendwelche Proceßhandlung selbst vornehmen kann; in letzter Beziehung hat ihn sein Vormund zu vertreten [88] Urtheile eines Wahnsinnigen würden an einer unheilbaren Nichtigkeit leiden. c) Am vielfachsten tritt die Bedeutung der G. im Criminalrechte auf; als eines rechtlichen Willens unfähig kann dem wirklich Geisteskranken weder ein Verbrechen imputirt, noch an ihm eine Strafe vollzogen werden, das Letztere selbst dann nicht, wenn auch das Verbrechen selbst bei vollem ungeschwächtem Geistesvermögen begangen worden war u. der Verbrecher erst später in G. verfiel, weil immerhin die Strafe dann ihren ganzen Zweck verfehlen würde, insofern dem Geisteskranken das Vermögen fehlen würde, das Strafübel zu empfinden u. den Grund desselben einzusehen. Bei den vielfachen u. zuweilen fast unmerklichen Abstufungen, in denen die geistige Gesundheit zur Seelenstörung herabsteigt, bei der nahen Verwandtschaft, welche zwischen bloßen Neigungen u. Begierden u. einem wirklich krankhaften Zustand der Seelenkräfte Statt findet, bietet die Untersuchung zweifelhafter Seelenzustände hier ganz besondere Schwierigkeiten dar; dazu kommt, daß der Verbrecher häufig auch, wohl bewußt, daß dies ein Mittel ist der Strafe zu entgehen, G. nur simulirt u. daher auch noch in dieser Richtung Aufklärung der Wahrheit nothwendig wird. Der Richter muß dann versuchen zu bewirken, daß der Angeschuldigte aus der Rolle falle; keinesfalls kann es aber doch für erlaubt gelten, zu diesem Zwecke etwa schmerzhafte Kurmethoden od. Prügel anzuwenden; auch hier muß der Gerichtsarzt den Richter unterstützen; von seinem Urtheil ist hauptsächlich abhängig, ob im einzelnen Falle eine die Zurechnung aufhebende Seelenstörung vorhanden sei od. nicht. Auch wo nicht völlige Aufhebung, sondern nur ein geminderter Grad der Zurechnungsfähigkeit Statt fand, hat aber der Criminalrichter bei Zumessung der Strafe darauf Rücksicht zu nehmen. Die G. kommen indessen im Criminalrechte zugleich in objectiver Beziehung in Betracht, wenn entweder die G. Folge der einem Menschen zugefügten Verletzung od. sonstiger übler Behandlung war, od. wenn das Verbrechen an einem bereits Wahnsinnigen begangen wurde. Der erstere Fall, welcher immer zu den schwersten Fällen der Gesundheitsverletzungen gehört, bietet in seiner Beurtheilung hauptsächlich deshalb besondere Schwierigkeiten dar, weil die Frage der Causalität, d.h. ob wirklich die Verstandeszerrüttung mit der Verletzung etc. in ursächlichem Zusammenhange stehe, dabei sehr schwer zu beantworten ist. Der andere Fall hat in seiner criminalrechtlichen Beurtheilung im Ganzen nichts Ausgezeichnetes vor dem Falle, wenn das Verbrechen an einem Gesunden verübt wurde; nur pflegt wegen der Hilflosigkeit eines solchen Unglücklichen die Strafe immer höher bemessen zu werden. d) Für das Gebiet des öffentlichen Rechtes muß es schon als ein Gebot der medicinischen Polizei gelten, Anstalten zu treffen, daß Geisteskranke die öffentliche Sicherheit nicht zu gefährden vermögen. Den Geisteskranken ist daher regelmäßig das freie Herumgehen zu untersagen, ausgenommen die Fälle, wo die Unschädlichkeit desselben ärztlich nachgewiesen ist. Die nächsten Angehörigen, bei deren Saumsal die Ortsvorstände, haben die Verpflichtung, für zureichende Bewachung des Wahnsinnigen zu sorgen u., wo ihnen dies unmöglich ist od. erheblichere Nachtheile aus der blos privaten Überwachung desselben zu befürchten sind, deshalb Anzeige bei der Polizeibehörde zu machen, welche dann für anderweite Unterbringung des Geisteskranken in eine Irrenanstalt das Nöthige zu veranlassen hat. Die Frage der Tragung der Kosten hiervon richtet sich nach denselben. Regeln, welche sonst über die Alimentationspflicht von Personen, die sich nicht selbst versorgen können, bestehen. Keinem Zweifel ist ferner unterworfen, daß der Geisteskranke keine staatsbürgerlichen Rechte, z.B. Wahlrechte, ausüben kann. Dafür treffen ihn natürlich auch nicht die persönlichen Verpflichtungen des Staatsbürgers, wie die Pflicht zum Militärdienst etc., während die auf dem Vermögen lastenden Verpflichtungen an Steuern u. Abgaben durch seinen Zustand nicht verändert werden. Weil der Staat aber auch in seiner Spitze eines vernünftigen Willens ebensowenig entrathen kann, als in seinen Gliedern, bewirkt G. in Monarchien für den Regenten Regierungsunfähigkeit. An Stelle des Souveräns hat eine Regentschaft od. Regierungsverwesung zu treten, welche gewöhnlich dem nächsten Agnaten u. Thronfolger, wenn dieser selbst im Stande ist die Regierung zu führen, zufällt, in constitutionellen Staaten jedoch meist nicht ohne daß vorher die Landstände über die Nothwendigkeit der Regentschaft ihr Urtheil gegeben haben.

Vgl. A. C. Lorry, De melancholia, Lpz. 1782, 2 Thle. (deutsch von Wichmann, Frkf. 1792, 2 Thle.); A. Crichton, An inquiry into tho nature of mental dérangement., Lond. 1789 u. 1799 (deutsch, 2. Aufl. von Hoffbauer, Lpz. 1810) Ph. Pinel, Traité sur l'aliénation mentale, Par. 1809, 2. Ausg. (deutsch von Wagner nach der 1. Ausg., Wien 1801); Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803; Arnold, Observ. on insanity, 2. Ausg. Lond. 1806 (deutsch nach der 1. Ausgabe von Ackermann, Lpz. 1784–1788, 2 Bde.); Hoffbauer, Untersuchungen über die Krankheiten der Seele, Halle 1802–7, 3 Thle.; Heinroth, Lehrbuch der Seelenstörungen, Lpz. 1823, 2 Thle.; Esquirol, Allgemeine u. specielle Pathologie u. Therapie der Seelenstörungen, deutsch von Hille, Lpz. 1827; Derselbe, Des maladies mentales, Par. 1838, 2 Bde.; Ideler, Biographien Geisteskranker, Berl. 1841; Flemming, Über Klassisication der Seelenstörungen, 1841; Calmeil, De la folie, 1845; Griesinger, Pathologie u. Therapie der psychischen Krankheiten, Stuttg. 1845; M. Jacobi, Hauptformen der Seelenstörungen, Lpz. 1844; A. Schnitzer, Allgemeine Pathologie u. Therapie der G., Lpz. 1846; Jäger, Seelenheilkunde, 2. Aufl. Lpz. 1846; Lähr, Über Irresein u. Irrenanstalten. Halle 1852; Jahr, Therapie der Geisteskrankheiten Lpz. 1854; Morison, Physiognomik der G., Lpz 1853; Spielmann, Diagnostik der G., Wien 1855.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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