Gewerbskrankheiten

Gewerbskrankheiten

Gewerbskrankheiten, diejenigen Veränderungen des gesundheitgemäßen Körperzustandes, welche durch die mit den Gewerben verbundenen Einflüssen bedingt werden. Die G. sind in neuerer Zeit ein fast selbständig gewordener Theil der Pathologie zu nennen. Die große Verschiedenheit[325] der schädlichen Einflüsse lassen sich folgendermaßen systematisiren: A) die Körperstellung: a) die sitzende (Schuhmacher, Schneider, Schreiber, Gelehrte, Weber, Uhrmacher etc.), bewirkt durch Mangel an ausreichender Muskelanstrengung Anhäufungen von Blut in den inneren Höhlen des Körpers u. allzugeringe Einathmung; die Folge davon ist, daß dem Blute weniger Sauerstoff zugeführt wird u. ein Überschuß an Kohlensäure entsteht, was endlich Venosität der Blutmasse herbeiführt; der Thorax wird schmal u. flach, weil die Lungen nur ungenügend sich ausdehnen. Die gewöhnlichsten durch sitzende Beschäftigung herbeigeführten Krankheiten sind Tuberkulose, vorzüglich Herzkrankheiten (Hypertrophie), Abdominalplethora u. deren Folgekrankheiten. Sogar das Gehirn leidet durch Blutanhäufung u. die Blutbeschaffenheit überhaupt, daher Hypochondrie nicht selten ist. Die Maßregeln der Hygiene dagegen sind außer möglichst geradem Sitzen u. Abwechseln mit Stehen gymnastische Übungen, Baden, Tabakrauchen, Wassertrinken u. bisweilen anzuwendende, leichtere Abführungsmittel; b) die stehende (Schriftsetzer, Gelehrte, Verkäufer) hat mancherlei Nachtheile gemein mit den sitzenden, eine Anhäufung des Blutes im Unterleibe u. Krümmung des Rückens. In Folge der Muskelanstrengung der Beine tritt Muskelzittern, Rückenschmerzen, Rückenmarksdarre ein, das Blut in den Beinen häuft sich an u. die nachgiebigen Venen kommen zur Ausdehnung (Varices. Blutaderknoten). Magenkatarrh, Anhäufung der Excremente im Blinddarm sind häufig; Maßregeln der Hygiene sind Abwechselung im Stehen u. Sitzen, gymnastische Übungen, namentlich der Arm- u. Brustmuskeln, Baden, Schnürstrümpfe, Vermeidung blähender Speisen; c) die gebückte ist fast immer mit den vorigen verbunden außer bei Bergleuten, welche in niedrigen Stollen gehen; durch gehemmtes Einathmen wird ungenügende Ausdehnung des Brustkastens bedingt, Kopfcongestionen, organische Hirnleiden, Krümmung des Rückens; dagegen sind Gymnastik der Rückenmuskeln u. der Lungen, Bäder u. kalte Waschungen zu empfehlen; d) die knieende Stellung (Steinklopfer, Tapezierer, Scheuerweiber) hat neben den Nachtheilen der vorigen Stellung noch besondere üble Folgen für das Kniegelenk als Entzündung, Tumor albus, Gonorthrocace, Hygroma patellae; weiche Unterlagen u. Einreibungen des Knies sind zu empfehlen. B) Übermäßige Anstrengung: a) durch active Bewegung (Landleute, Schiffer, Lastträger, Tagelöhner, Bergleute, Wäscherinnen, Fabrikarbeiter), sei es, daß die Kraftäußerung wirklich übermäßig ist od. daß eine an u. für sich geringe Anstrengung durch allzulange Dauer übermäßig wird. Ein Zustand von Schwäche tritt ein als Folge des übermäßigen Stoffverbrauchs, Blutarmuth u. zeitiges Altern (Marasmus) vorzüglich bei, in Fabriken beschäftigten Kindern. Die übermäßige Anstrengung bewirkt vermehrtes Bedürfniß nach Sauerstoff, daher tieferes Einathmen u. somit Ausdehnung der Lungen (Emphysem) u. bei schlechter Ernährung Lungenblutung (Blutspuken) u. Asthma, auch Pneumonie, Pleuritis u. Pericarditis; das Herz hypertrophirt u. die kräftigeren Herzcontractionen bewirken größeren Blutzufluß nach dem Gehirn, der sich als Schwindel, Krämpfe, Lähmung u. Schlagfluß äußert. Linderungsmittel: Arbeitspausen mit Schlaf, Genuß reiner Luft u. nahrhafter Speisen (Milch, Eier, Fleisch u. Vermeidung von Branntwein); b) durch passive Bewegung beim Fahren, Reiten, Schaukeln u. auf Schiffen in offener See (Seekrankheit, s.d.); die Krankheitsursache liegt theils in der mechanischen Bewegung der Bauch- u. Brusteingeweide, welche an Magen u. Zwerchfell zerren u. dadurch Übelkeit u. Erbrechen erregen, theils zeigt sie sich im Gehirn (Schwindel, Kopfweh etc.) durch Erschütterung des Gehirns u. durch Störung im Blutkreislaufe; c) Anstrengung einzelner Muskeln od. Muskelgruppen kann Krampf bedingen, so der Schreibekrampf, zu Contracturen, Gelenkschmerzen u. Entzündung der Sehnenscheiden führen (bei Virtuosen, Schnittern) zu Entzündungen des Zellgewebes zwischen den Muskeln (Exercierknochen, Reitknochen), bei Schmieden u. Schlossern kann sich der Brustkasten krankhaft erweitern u. Lungenemphysem entstehen; Arbeitspausen od. Abwechselung der Arbeit u. gymnastische Übung der beim Geschäftsbetrieb nicht geübten Körpertheile sind am wirksamsten; d) Anstrengung der Athemorgane bei Tänzern, Bläsern von Blasinstrumenten, Rednern, Sängern, Schauspielern; die Folgen sind Lungenblutungen, Katarrhe des Kehlkopfs u. der Luftröhre, chronische Heiserkeit, Aneurysmen, Herzleiden, Gehirncongestionen; für Sänger u. Redner ist die richtige Athemeintheilung wichtig; beim Heben schwerer Lasten ist der Mund offen zu halten (daher Matrosen singen u. jodeln), damit nicht die Zusammenpressung des Thorax über der mit Luft erfüllten Lunge Emphysem bewirke; e) Anstrengung der Augen durch anhaltendes Betrachten kleiner Gegenstände (Uhrmacher, Schriftsetzer, Spitzenverfertiger, Kalligraphen, Miniaturmaler, Graveurs), durch grelles Licht (Feuerarbeiter u. bei Beleuchtung durch Glaskugeln), schlechte od. flackernde Beleuchtung (bes. bei Talglichtern), durch plötzlichen Wechsel zwischen Licht u. Finsterniß (Bergleute, Grubenarbeiter), durch fehlerhafte Brillengläser u. noch mehr durch unpassende Brillengestelle (Gelehrte), durch Arbeiten unmittelbar nach der Mahlzeit; Folgen sind Augenschwäche u. Augenleiden aller Art; f) Anstrengung des Gehörorgans (Musiker, Klavierstimmer, Klempner, Mühlenarbeiter, Artilleristen) bewirkt Hallucinationen der Hörnerven (Sausen, Zischen, Klingen, Pochen), Ohrenzwang, Kopfweh; Einbringung von Baumwolle ins Ohr u. Öffnen des Mundes bei heftigem Schall wird empfohlen; g) Anstrengung des Gehirns durch geistige Arbeiten, vorzüglich bei Dichtern u. Componisten u. überhaupt wenn geistige Arbeiten zu unpassender Zeit vorgenommen werden (bei Krankheiten, nach Excessen, nach bedeutenden Muskelanstrengungen, gleich nach dem Essen od. dem Aufstehen); Folgen sind Hypochondrie, Verdauungsbeschwerden, Bleichsucht, Abmagerung, Rückenmarksdarre; vorzüglich sind zu meiden alle Reizmittel vor u. während der Arbeit (wie Kaffee, kalte Fußbäder). C) Temperatur a) zu große Hitze ( Feuerarbeiter, Bäcker, Köche, manche Fabrikarbeiter, Arbeiter in Glashütten, Maschinenheizer; Arbeiter in der Sonnenhitze können sich den Sonnenstich, Sonnenbrand zuziehen) bewirkt Brustbeklemmung, Athemnoth wegen des geringen Gehaltes der erwärmten Luft an Sauerstoff u. wegen der Blutanhäufung in den Lungen, endlich Emphysem, große Erkältbarkeit der Haut[326] (daher häufig Gicht); b) Kälte, namentlich wenn sie mit Nässe verbunden ist (Fischer, Soldaten, Töpfer, Bildhauer), bedingt Katarrhe, Rheumatismen, Gicht u. Erfrierungen der Glieder. D) Unreine Luft: a) Staub (Schneider, Bäcker, Baumwollenspinner, Federschließer, Wollkämmer, Tabakspinner, Kürschner, Maurer, Drechsler, Schleifer, Seiler u.a.) kann Lungenentzündung u. chronische Katarrhe u. Heiserkeit verursachen; Bäcker leiden an einem Hautausschlag (Bäckerkrätze) u. Schornsteinfeger an Epithelialgeschwülsten (Schornsteinfegerkrebs); b) Kohlendampf (bei allen Feuerarbeitern) wirkt wie Kohlensäure Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerz, Athemnoth, Angst, Ohnmacht, Krämpfe; c) Kloakengas bei Grubenreinigern; d) Schwefeldämpfe; e) Phosphordämpfe (in Zündholzfabriken) bewirken Phosphornekrose; f) Arsen (Bergwerks- u. Hüttenarbeiter, Smaltefabrikanten, Neusilberarbeiter, Maler, Farbereiber, Kattundrucker, Schrotgießer, Glasarbeiter u.a.), die Folgen s.u. Arsenikvergiftung; g) Blei (Anstreicher, Lackirer, Maler, Schriftgießer, Arbeiter in Bleibergwerken, Glasfabrikanten, Klempner, Färber, Kattundrucker), s. Bleivergiftung; h) Quecksilber (Arbeiter in Quecksilberbergwerken, Vergolder, Versilberer, Gold- u. Silberarbeiter, Verfertiger von Barometern und Thermometern, Spiegelfabrikanten, Daguerrotypisten), s. Quecksilber. E) Thierische Gifte: a) Milzbrand Fleischer, Schäfer, Abdecker, Gerber s.d.); b) Rotz (Kutscher, Abdecker, Arzte u. in Thierarzneischulen), s. Rotzkrankheit. Vgl.: Thackrah, The effects of the principal arts, trades and professions on health and longevity, Lond. 1832; Halfort, Entstehung, Verlauf u. Behandlung der Krankheiten der Künstler u. Gewerbtreibenden, Berl. 1845.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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