Graubündten [1]

Graubündten [1]

Graubündten (Graubünden, fr. Pays de Grisons, ital. Grigoni), 1) der größte Canton der Schweiz, 127 QM.; grenzt an Tyrol, die Lombardei, die Cantone Tessin, Uri, Glarus, St. Gallen; ist durchaus Gebirgsland u. im bei weitem größten Theil entweder mit mächtigen Gebirgsstöcken od. zusammenhängenden Ketten bedeckt, die theils zu den Lepontischen, theils zu den Rhätischen Alpen gehören; vom Crispalt auf der Westgrenze zieht sich eine Kette als mächtige Vormauer gegen die Cantone Uri, Glarus u. St. Gallen mit durchschnittlicher Erhebung von 7500 bis 9500 Schweizer Fuß in der Richtung nach Nordosten über den Dödi, welcher den Centralstock bildet, über den Kistenpaß, Panixer- u. Segnespaß, über die Scheibe u. Ringelspitz zu dem 8600 Fuß hohen Kalanda; vom Crispalt nach Süden erstreckt sich der Bergkamm des Badus (9165 Fuß), des Roßbodenstocks (7582 Fuß), Sixmadun (9023 Fuß), des Cuspis u. Magis; an den Quellen des Medelser-Rhein breitet sich der Lukmanier aus u. setzt sich ostwärts fort über den Skopi, Piz Val u. Camadra zum Greina-Passe; von da nach Südosten auf der Grenze gegen Tessin steht die Adula-Gruppe mit dem Piz-Val-Rhein (10,280 Fuß), dem Zaporthorn (10,220 Fuß), dem Moschelhorn (9911 Fuß) u.a., u. sendet einen Zweig über den Marienberg nach Norden zum Greina, nach Nordosten in das Innere des Cantons mit den Kuppen Valser-Berg, Piz Beverin u. dem Heinzenberg, nach Süden ebenfalls einen Zug mit hohen Hörnern; von der Adulagruppe führt nach Osten eine Kunststraße über den Bernhardin (6580 Fuß) zum Paß über den Splügen (6510 F.), an welchem viele Bergkämme zusammenstoßen, aber der Hauptzug setzt sich nach Südosten fort zum Septimer, dem uralten Passe von 7140 Fuß Höhe; dieser sendet einen Zug gerade nach Norden mit dem 10,423 Fuß hohen Jofferhorn u. berührt ostwärts die Albula-Kette; sie breitet sich aus zwischen den Thälern des Rhein u. Inn, mit dem Piz d'Err (9869 Fuß), Tinzener Horn (9331 Fuß), Piz d'Äla, Piz d'Albula (10,535 Fuß), Piz Ürtsch (10,076 Fuß) u.a., setzt sich nach Nordosten fort zum Stock des Selvretta, an welchen sich nach Westen der Sträla anschließt, der sich im Inneren des Cantons durch den Alteingrat, die Weißhörner, das Parpaner Rothhorn u. gegen den Rhein hin in der Hochwang-Gruppe weit verästelt; endlich steht auf der, nördlichen Grenze gegen Tyrol der Rhätikon von 7500.–9000 Fuß durchschnittlicher Erhebung, u. auf der lombardischen Grenze dem Septimer gegenüber ein 9–10,500 Fuß hoher Alpenzug mit dem Piz Codera, Piz Ligoncio, Monte die Cantun (10,261 Fuß), Mezzodi (11,021 Fuß), Monte Sissone (11,700 Fuß) bis ostwärts zum Monte dell'Oro, an welchen sich die, alle genannten an Erhabenheit der Gipfel, an Pracht u. Umfang der Gletscher übertreffende, im Durchschnitt 10 bis 12,000 Fuß hohe Gruppe des Bernina anschließt mit dem Monte Rosso di Dentro (12,139 Fuß), Monte Caspoggio (11,072 Fuß), Monte Fora (10,385 Fuß), Piz Palü (12,044 Fuß), Piz Mortiratsch (12,475 Fuß), über welche alle der 13,509 Fuß (12,480 Pariser Fuß) hohe Piz Bernina hinwegschaut. Unter den Gebirgsarten herrschen die Flötzbildungen u. die krystallinisch schieferigen u. körnigen Gesteinarten (Urgebirge) mehr im Süden, Kalkstein u. Kalksteinschiefer im Norden vor, berühren sich aber einander häufig od. stehen auch neben einander; Gneiß u. Granit bilden nicht sehr ausgebreitete Gebirge, Serpentin kommt in großer Mächtigkeit südlich am Prätigau vor. Nicht weniger als 241 Gletscher, die häufig mehrere Tausend Fuß über die Schneelinie hinabsteigen u. ausgedehnte Eismeere bilden, starren zwischen den Gebirgen dieses Cantons empor u. speisen die Flüsse, die zum Gebiet des Rhein, der Donau, des Po u. der Etsch gehören; sie sind: der Rhein mit seinen zahlreichen Zuflüssen, der Inn, Poschiavino, die Maira, Monsa u. der Rhom. Der Seen ist eine große Anzahl, als der Toma-, Calendari-, Lüscher-, Vatzer-, Albula-, Silser-, Silvaplaner-, Campseerer- u.a. Seen; merkwürdig sind die Gletscherseen mit glattem Eisgrunde. Als Gebirgsland im eigentlichen Sinne hat der Canton keine Ebene u. nur wenig Thalflächen; dagegen umfaßt er 150 größere u. kleinere Thäler, die oft durch unzugängliche Gebirgswände von einander geschieden sind; die fünf größten sind das des Hinterrhein, des Vorderrhein, das Engadin (des Inn), das der Albula u. der Prätigau (der Landquart), alle mit vielen Seitenthälern, u. diese wiederum mit Nebenthälern. Das Klima ist äußerst verschieden, u. neben Gegenden mit sieben- bis achtmonatlichem Winter gibt es im Süden andere mit italienischem Klima; Gewitter sind selten; Lawinen u. Überschwemmungen der Gebirgswasser thun großen Schaden (wie z.B. 1834), wichtige Winde sind der Föhn aus Süden als Schneeschmelzer u. der Nordost als Wolkenverscheucher; Erdbeben sind selten. Producte: Gold im Inneren der Berge, häufiger in den Flüssen, bes. im Rhein, Silber, silberhaltige Bleierze, Kupfer, Eisen, Marmor, Griffelschiefer, Lavezstein, Alabaster, Gyps, an Bausteinen ist Mangel; sehr reich ist der Canton an Bädern u. Mineralquellen, wie zu St. Moritz, Fideris, St. Bernhardin, Tarasp, Jenatz u.a.; aus dem Pflanzenreich Roggen, Gerste, Weizen, Hafer, Mais, Wein, Hirse, Kartoffeln, Flachs, Hanf, Obst; der Ackerbau ist nicht ganz unbedeutend; die früher reichen Waldungen an Nadelholz haben sich bei dem Mangel jeder Forstcultur sehr gelichtet, doch hat der Staat dem Einhalt gethan. Von Thieren gibt es Bären, Gemsen, Murmelthiere, Berghasen, Adler, Lämmer- u. Bartgeier, in den Flüssen treffliche Grund- u. Lachsforellen. Den Hauptnahrungszweig bildet die Alpenwirthschaft u. Viehzucht; die Industrie ist gering, es gibt einige Glashütten, eine chemische, Theer-, Essig-, Fayencefabrik, eine Baumwollenweberei; mit Einführung der Wollweberei, Strohflechterei u. Seidenweberei sind erst Anfänge gemacht; wichtiger ist der Speditions- u. Transithandel aus Deutschland u. der Schweiz nach Italien; von großem Einfluß auf die Verhältnisse ist die Verbindung von Chur durch Eisenbahn mit der schweizer Südostbahn, noch mehr wird es die projectirte Bahn durch das obere [557] Rheinthal u. durch den Lukmanier nach Italien sein. 89,900 Ew., gegen Reformirte, über 1/3 Katholiken; sie sprechen romanisch (1/2), deutsch (1/3) u. italienisch (1/8); viele Bündtner halten sich in den Hauptstädten u. Handelsplätzen Europas auf als Bäcker, Wirthe u. Kaufleute. Die Einkünfte betrugen im Jahre 1851–52: 377,349 Franken; die Ausgaben: 349,345 Franken. In den Nationalrath sendet der Canton vier, in den Ständerath zwei Mitglieder; sein Geldbeitrag: 17,979 Franken, das Militär contingent: eine Gebirgsbatterie mit 269 Mann, 54 Guiden, 3 Compagnien Scharfschützen, 300 Mann, 27 Compagnien Infanterie, 3318 Mann, 8 Mann zum Sanitätsdienst u. 158 Trainpferden. Die Hauptstadt ist Chur. Verfassung: Nach der Verfassungsrevision von 1851 ist der Canton, statt früher in 3 Bünde mit Hochgerichten, in 14 Bezirke mit zusammen 39 Kreisen getheilt; das Volk hat die souveräne Gewalt, entscheidet über die vom Großen Rath vorgelegten Gesetze, Staatsverträge, Steuererhöhungen u. Bündnisse, u. die Kreise wählen nach Verhältniß ihrer Bevölkerung durch directe Wahl den Großen Rath, welcher, aus 65 Mitgliedern bestehend u. alle Jahre neu gewählt, die oberste Behörde in Verwaltungs- u. Landespolizeiangelegenheiten u. die berathschlagende über die dem Volke zur Genehmigung vorzulegenden Verfassungsbestimmungen u. Gesetze etc. bildet. Der Kleine Rath, aus drei ebenfalls jährlich neugewählten Mitgliedern bestehend, besorgt die laufenden Regierungsgeschäfte. Die Standescommission aus dem Kleinen Rath u. noch neun jährlich oom Großen Rath gewählten Mitgliedern bestehend, bereitet die dem Großen Rath vorzulegenden Geschäfte vor u. wird auch zur Mitberathung wichtigerer Regierungsgeschäfte einberufen, bes. wenn der Friede des Cantons bedroht ist. Das Stimmrecht beginnt mit dem erfüllten 17. Lebensjahre, aber für die Wahlen in den Nationalrath mit dem erfüllten 20. Jahre. Für die Justizpflege besteht ein Cantonsappellationsgericht, Kreisgerichte etc. In kirchlicher Beziehung stehen die reformirten Gemeinden (in 1 Klasse u. 9 Colloquien getheilt) unter einen Kirchenrath, der aus dem Präsidenten, sechs geistlichen Mitgliedern u. einem weltlichen Beisitzer besteht u. sich jährlich abwechselnd in allen Landestheilen versammelt; die katholischen gehören zum Sprengel des Bischofs von Chur. Das Schulwesen hat durchgreifende Verbesserungen erfahren; es besteht eine vereinigte Cantonsschule, Realgymnasium, Schullehrerseminar, das katholische Priesterseminar, eine Forstschule, ein Lehrerseminar in Schiers u. eine Anzahl Privatanstalten. Münzen, Maßen. Gewichte sind die der Schweiz überhaupt.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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