- Tessīn
Tessīn, 1) (Ticīno, spr. Titschino), linker Nebenfluß des Po im Schweizercanton T., dem er den Namen gibt, u. in Oberitalien, entspringt aus drei Quellen am St. Gotthard u. am Nüsenenpasse, nimmt die Abflüsse aus den Seen der Piora Alpen, den Plotino, Blegno, die Moesa u. Marobbia auf u. ergießt sich bei Magadino in den Lago maggiore; nach seinem Ausflusse aus demselben bei Sesto Calende wird er schiffbar, sendet einen seiner Zweige als Kanal nach Mailand, scheidet, in viele Arme sich zertheilend, die Lombardei von Piemont u. mündet unterhalb Pavia. Im Canton T., wo die Gotthardsstraße neben u. über ihm angelegt ist, richtet er durch sein Austreten oft bedeutende Verheerungen an, so bes. im Jahre 1834; er ist reich an Fischen, bes. Forellen. 2) (Tessino), der 18. u. südlichste Canton der Schweiz, zwischen den Cantonen Wallis, Uri u. Graubündten u. Italien; 50,89 QM.; Gebirge: im Nordwesten des Cantons steht der Centralstock der Gotthardkette, von welcher sich westlich vom Tessin zwischen dem Livinen-, Verzasca- u. Maggiathale zwei Hauptzweige bis zum Lago maggiore ziehen mit den Gipfeln Pizzo Forno 8954 Fuß, Cima della Pecore 7945 F., Ponzione di Vespero 8354 F., Pizzo Massari 8502 F., Monte Ravina 8760 F. etc. Im westlichen Theile des Cantons auf der Grenze gegen Piemont sind die höchsten Spitzen: das Grießhorn 9007 F. (Grenze von T., Wallis u. Piemont), Ponzione di Braga 8826 F., Pizzo Gallina 9420 F., Pisciora 9494 F., Cavergno 9608 u. 10,085 F. hoch. Der im Norden liegende Lukmanier setzt sich östlich vom Tessin in einem langen Arme (mit dem 7969 F. hohen Pizzo Molajo) fort. Nach Osten u. Südosten sendet die Adulagruppe der Rhätischen Alpen Zweige[398] durch den Canton mit dem Ponzione di Malvaglia, Ponzione di Claro 8373 F., Camoghé 8740 F., Pizzo Menone 7110 F., Monte Generoso 5199 F. etc. Die zwar nur 1720 F. hohe Querschwelle des M. Cenere östlich vom Lago maggiore ist eine wichtige klimatische Grenzscheide für den Canton, indem südlich von ihr die italienische Luft u. Vegetation beginnt. Von Alpenpässen berühren den Canton T. der Nüsenenpaß, die Straße über den St. Gotthard, in welche der Paß u. die projectirte Eisenbahn über den Lukmanier mündet, die Straße über den Bernhardin u.a. Von Gebirgsarten sind vorherrschend Glimmerschieser, Granit, Gneis, Tropfstein (zu Kochgeschirren vielfach verarbeitet), Porphyr u. Urkalk, außerdem Gyps, Tuff (zum Häuserbau angewendet), Marmor, Dolomit; es gibt wenig Metalle, aber viele Fossilien u. Edelsteine (Rubine, Topase, Hyacinthe, Granaten, Turmalin, Sagenit, Cyanit, Bergkrystalle etc., Asbest). Unter den Thälern ist das Hauptthal das des T. (im oberen Theile Val Leventina od. Livinenthal genannt), in welches rechts münden das Bedretto-, Chironico-, d'Ambra- u. Verzascathal, links die Thäler Canaria, Piora, Cadelin, Blegno, Osogna, Misocco mit dem Val Calanca u. das Marobbiathal; außerdem westlich vom Tessin das Maggiathal mit dem Val Lavizzara, V. Bavona u. V. Onsernone; endlich die anmuthigen Thäler des Agno u. Isone südlich vom Monte Cenere. Die hauptsächlichsten Seen sind mit Ausnahme der zahlreichen kleinen in den Hochthälern zerstreuten (wie der Ritomsee am Lukmanier, die Seen auf dem Gotthard, der Lago die Lucendro u.a.) der Lago maggiore u. Lago di Lugano; in den ersteren ergießen sich die Flüsse Tessin (mit links: Brenno, Moesa, Marobbia u. rechts: Ticinetto, Piumegna, Rierna), Verzasca u. Maggia (mit Bavona, Rovana, Malezza mit Onsernone) in den Luganersee der Agno. Inklimatischer Beziehung bietet der Canton eine mannigfaltige Abstufung von der Gletscherregion bis zum Klima Italiens dar; doch ist im Allgemeinen auch in den nördlichen Thälern das Klima milder als auf der Nordseite der Alpen, am wärmsten ist es südlich vom M. Cenere, wo der Winter kaum 31/2 Monate anhält, während er am Gotthard 9 Monate dauert. Die fast immer Vormittags eintretenden Gewitter sind oft furchtbar, nicht minder gefahrbringend u. zerstörend die Lawinenstürze u. die Schneestürme; der Föhn ist der vorherrschende Wind. Producte: von Wild gibt es wenig Bären u. Wölfe, häufig Füchse, Marder, Dachse, Hafen, Fischottern, Raubvögel, Fasanen, Berg-, Hasel- u. Rebhühner, Schnepfen, dann Fische (bes. Forellen, Barsche u. Aale); von Vieh wird viel Schlachtvieh, namentlich Kälber ausgeführt, außerdem baut man viel Wein (geht bis über 2100 Fuß hinauf), Getreide (Mais, Weizen, Roggen, Hirse, Buchweizen) in den südlichen Gegenden mit zwei Ernten, Südfrüchte, Obst, Tabak, Futterkräuter, Maulbeer- u. Ölbäume; die Producte des Mineralreiches s. oben; Mineralbäder sind in Stabio u. Rovio. Von den Einwohnern (1860: 116,343), welche fast ausschließlich Römisch-katholischer Religion sind u. ein zwischen dem Romanischenn. Italienischen stehendes Patois sprechen, wandert ein beträchtlicher Theil nach Oberitalien aus als Viehhändler, Milchverkäufer, Handwerker, Schornsteinfeger, Dienstboten etc. u. kehren mit dem Erworbenen in die Heimath zurück; auch nach Amerika findet eine nicht unwesentliche Auswanderung statt. Sie treiben Viehzucht, Acker- u. Weinbau, welcher letztere nur ein mittelmäßiges Product liefert; unter den Industriezweigen ist nur die Seidenindustrie bedeutend, außerdem die Strohflechterei erwähnenswerth. Ausgefahren wird Vieh, Käse, Seide, Holz, Kohlen, Strohgeflechte, Felle, Häute etc., eingefahren Getreide, Wein, Branntwein, Metalle, Colonial-, Manufactur- u. Luxuswaaren. Der stärkste Transit geht über den St. Gotthard, weniger über den Bernhardin. Das schon italienische Gepräge des Lebens ist bemerkbar an dem Arbeiten der Handwerker im Freien, den Arkadengängen der Städte, den zahlreichen Weltpriestern u. Klostergeistlichen, der italienischen Zeitrechnung etc. Inkirchlicher Beziehung steht der Canton unter dem Bischof von Como u. dem Erzbischof von Mailand; Chorherrenstifte bestehen in Balerna, Lugano, Agno, Locarno, Bellinzona; es gibt vier Kapuziner- u. vier Nonnenklöster. Der Schulunterricht, welcher bis 1832 in einem sehr mangelhaften Zustande war, ist seitdem verbessert worden; 1841 wurde in jedem Bezirk eine Secundärschule errichtet u. 1852 gab es im Ganzen 450 Schulen, darunter freilich fast die Hälfte von nur sechsmonatlicher jährlicher Unterrichtszeit. Gymnasien sind in Mendrisio, Lugano, Ascona, Locarno, Bellinzona, Poleggio; ein Lyceum in Lugano. Öffentliche Anstalten für Waisen, Taubstumme, Irre etc. existiren nicht; doch in dem neuerlich erbauten Spital Turconi in Mendrisio sollen Kranke aller Art Unterkunft finden. Erwähnenswerth ist das 1838 hergestellte Hospiz auf dem St. Gotthard für Reisende. T. besteht aus den früher mailändischen Provinzen Bellinzona, Riviera u. Bollenz (Italienische od. Ennetburgische Voigteien), welche mit dem in Uri früher gehörigen Livinerthale vereinigt u. 1798 zu einem Canton erhoben wurde, welcher 1803 feste Bestimmung erhielt.
Die Staatsverfassung ist vom 13. Juni 1830 (am 4. Juli fast einstimmig angenommen; Costituzione della republica e cantone del Ticino, in Bornhauser, Verf., Trogen 1836, II. 138), erhielt eine demokratische Modification der Verfassung vom 17. Dec. 1814 (in Usteri, Handbuch des Staatsrechts; Pölitz, Europ. Verfs., III. 313) u. wurde 4. März 1855 theilweise reformirt. Einen integrirenden Theil der Constitution bildet das Gesetz vom 10. Decbr. 1819 (in Bornhauser, Verf., II. 163). Die souveräne Gewalt beruht in der Gesammtheit der Bürger, ausgeübt wird sie von den verfassungsmäßig gewählten Stellvertretern. Gleichheit der Geburt, Person, Familie, des Standes, Gerichtes u. Ortes, Freiheit der Presse, des Petitionsrechtes, Handels, der Künste u. Gewerbe sind gewährleistet. Cantonalbehörden: der aus 114 Deputirten (drei auf die Dauer von 4 Jahren gewählt) bestehende Große Rath (Gran consiglio) übt die souveräne Gewalt aus, versammelt sich jährlich zu zwei ordentlichen Sitzungen Anfang Mai u. September an einem der Regierungssitze Bellinzona, Locarno u. Lugano u. verhandelt öffentlich. Der aus sieben gewählten Cantonsbürgern gebildete Staatsrath (Consiglio di stato, die Regierung), ist mit Vollziehung der Gesetze, Beaufsichtigung u. Ernennung der Beamten, Verkehr mit dem Auslande, der Gewalt über die bewaffnete Macht u. dem Vorschlagen der Gesetzebeauftragt. Sein Präsident wird vom Staatsrath[399] selbst unter seinen Mitgliedern auf 6 Monate gewählt. Die Gerechtigkeitspflege steht den Friedensgerichten (in den Kreisen), den Bezirksgerichten u. einem Obergerichte zu. Jede Gemeinde hat einen Gemeinderath von drei bis elf Mitgliedern, welchem die Verwaltung u. Ortspolizeipflege zusteht; acht Bezirke: Lugano, Locarno, Mendrisio, Bellinzona, Valle Maggia, Leventina, Blenio u. Riviera, welche in 38 Kreise eingetheilt werden. In den Schweizer Nationalrath sendet der Canton T. sechs Mitglieder u. zwei in den Ständerath. Die Strafgesetzgebung stützt sich auf das Strafgesetzbuch vom 1. Juli 1816, welches dem Österreichischen Strafgesetzbuch u. zum Theil dem Code Napoleon nachgebildet ist; eine Ergänzung dazu bildet ein Gesetz vom 17. Dec. 1822. Das Strafverfahren, ohne Geschworene, aber sonst öffentlich u. mündlich, ist durch Gesetze vom 15. Juli 1816 u. 5. Juni 1832, das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten durch Gesetz vom 14. Dec. 1820, neben welchem noch eine Notariatsordnung besteht, geregelt. Ein neues, dem französischen Code civil nachgebildetes Civilgesetzbuch wurde 1837 publicirt. Mannschaftscontingent: 170 Sappeurs, 255 Mann Artillerie, 85 M. Packtrain, 154 Trainpferde, 6 sechspfündige Kanonen, 2 vierundzwanzigpfündige Haubitzen, 38 M. Cavallerie (Guiden), 300 M. Scharfschützen u. 36 Compagnien Infanterie mit 4084 M. Finanzen. Die Schuld betrug 1. Jan. 1853: 5,160,802 Franken, die Einkünfte nach dem Budget von 1854: 779,355 Fr. u. die Ausgaben 1,054,912 Fr. Wappen: ein in die Länge blau u. roth gespaltener Schild. Hauptstädte s. oben. Münzen, Maße u. Gewichte. Man rechnet jetzt 1850 im Canton T. wie in der ganzen Schweiz (s.d.) nach Franken des französischen Münzfußes (8 Sgr.). Maße u. Gewichte sind gesetzlich die neuen Schweizer Maße (s.u. Schweiz S. 629), doch kommen immer noch häufig von den älteren die folgenden vor: der Fuß (Brazetto) = 0,5 Meter od. 12/3 neue Schweizer Fuß; der Trabucco hat 5 Fuß = 2,5 Meter; beim Feldmaß hat die Pertica (Ruthe) 360 Quadrattrabucchi, 22,5 französische Aren od. 5/8 neue Schweizer Juchart. Getreidemaß: der Moggio hat 8 Staja od. Stari, der Stajo = – 17,2973 Liter od. 1,15315 neue Schweizer Viertel. Flüssigkeitsmaß: das Lägel (Barile) hat 30 Pinte, die Brenta (Eimer) 42 Pinten, die Pinta 2 Boccali, 1 Pinta = 1,72164 Liter od. 1,14776 neue Schweizer Maß. Gewichte. Handelsgewicht: das schwere Pfund, Libbra grossa von 32 Unzen – 860,818 Gramm = 1,721636 neue Schweizer Pfund; das leichte Pfund, Liretta, für Seide u. Gewürz von 12 Unzen = 322,807 Gramm = 0,645613 neue schweizer Pfund, 3 Schwere Pfund = 8 leichte Pfund, die Unzen sind sich gleich. Vgl. Topographisch-statistische Darstellung des Cantons T., Zür. 1812; Franscini, Der Canton T., deutsch von Hagnauer, St. Gallen u. Bern 1835.
Erst mit dem Auftreten der Longobarden in den oberen Thälern Italiens wird die Geschichte dieses eigentlich zu Oberitalien gehörigen Landes etwas heller. Die noch vorhandenen Trümmer des Lombardischen Thurmes (Torre Lombarda) u. des Thurmes des Desiderius (Torre del re Desiderio) beweisen, daß die Lombarden hier Haltepunkte ihrer Herrschaft fanden. Seit Beginn des 15. Jahrh. war das jetzige Land T. der Schauplatz der Kämpfe der Schweizer mit Mailand, so namentlich am 30. Juni 1422 bei dem Dorfe Arbedo, wo die Eidgenossen eine Niederlage erlitten (s. Schweiz S. 638). Auch. in der darauf folgenden Zeit, nachdem bereits 1466 die Urner ihre Herrschaft über den tessinischen Bezirk Livenen ausgedehnt hatten, knüpfte sich das Schicksal T-s, welches damals in acht Landvoigteien (Ennetburgische Voigteien) getheilt war, fast drei Jahrhunderte lang an das des benachbarten Welschlandes, daher auch die in Folge der Reformation sich zeigende freiere Regung der Geister bald wieder erstickt wurde. Tiefer eingreifend, wenn auch die allgemeinen Verhältnisse des Landes nicht ändernd, waren die Volksbewegungen der Livener 1713 u. der bewaffnete Aufstand derselben 1755 gegen die damaligen Landesherren, die Urner. Entscheidend dagegen auf das weitere politische Leben T-s wirkte die Französische Revolution, indem 1797 u. 1798 bei der Verwandlung Oberitaliens u. der Schweiz in eine Cisalpinische u. Helvetische Republik sich die Mehrzahl des Volkes für die helvetische Sache entschied u. in Folge davon aus den früher mailändischen Provinzen Bellinzona, Riviera u. Bollenz im Verein mit dem früher zu Uri gehörigen Livenerthale der jetzige Canton T. gebildet wurde, welcher 1803 durch die Vermittelungsurkunde (s.u. Schweiz S. 684) seine feste Bestimmung erhielt. 1823 gab sich der Canton eine neue, auf volksthümlichen Principien ruhende Verfassung, welche aber zugleich den ultramontanen Bestrebungen Vorschub leistete. Daher kam es auch schon 1830 zu einer Revolte in T., welche indeß ohne nachhaltige Wirkung blieb. Die liberale Tendenz, welche hierbei T. an den Tag gelegt hatte, brachte dem Canton schon 1831 sichtbare Unannehmlichkeiten. Von der Lombardei aus wurde er fest blockirt, u. da auch Sardinien diesem Beispiel folgte, stockte aller Verkehr. Im Dec. 1839 kam es abermals zu einer Revolte (s.u. Schweiz S. 653), in Folge deren die Regierung vertrieben wurde. Der radicale Charakter der neuen Regierung bekundete sich namentlich in dem Vorgehen gegen den Clerus, welchem aller Einfluß auf den Unterricht genommen wurde. Wegen der Schließung des Seminars von Poleggio entstand ein mehrjähriger Streit mit dem Bischof von Mailand, in welchem aber die Regierung endlich nachgeben mußte. In dem Sonderbundsstreite erklärte sich der Canton T. gegen die Jesuitenberufung, lehnte dann auch jede Betheiligung an dem katholischen Sonderbunde ab u. stimmte durch seinen Gesandten bei der Tagsatzung für Ausweisung der Jesuiten. In dem Sonderbundskriege, in welchem T. zur Eidgenossenschaft hielt, wurde der Canton auch zum Kriegsschauplatze (s. Schweiz S. 657); am 4. Nov. 1847 fielen daselbst die ersten Opfer des Bürgerkrieges.
Nach der Niederlage des Sonderbundes führte die Regierung von T. die Verfügung, welche dem katholischen Clerus den Jugendunterricht entzog, 1848 noch consequenter durch; zugleich wurden die neun reichsten Klöster aufgehoben (28. Juni) u. den zwölf übrigen Beschränkungen hinsichtlich der Zahl der Mönche auferlegt. Andererseits nahmen nun aber auch die Verwickelungen mit den Nachbarstaaten in der Flüchtlingsangelegenheit ihren Anfang. Hatte T. bereits während des Krieges zwischen Sardinien u. Österreich im Frühjahr u. Sommer 1848 eine thatsächliche Parteinahme für ersteren Staat bewiesen, so nahm es nach dem Siege der Österreicher nicht nur die lombardischen Flüchtlinge[400] auf, sondern ließ dieselben auch, ungeachtet der darüber erhobenen Beschwerden Seitens Österreichs, so ungehindert Rüstungen zu einem Einfall, in die Lombardei machen, daß Radetzky die gänzliche Sperrung der Grenze u. zugleich die Ausweisung der in der Lombardei wohnenden Tessiner, 2000 an der Zahl, anordnete; auch die schweizerische Tagsatzung erkannte die österreichischen Beschwerden für so gegründet an, daß sie einen eigenen Commissär nach T. sandte u. die Grenze durch eidgenössische Truppen besetzen ließ. Nach längeren diplomatischen Verhandlungen wurde im Octbr. 1848 die Handelssperre aufgehoben u. eine Ausgleichung der schwebenden Differenzen verkündigt. Doch erneuerten sich die Verwickelungen bald wieder, namentlich wegen des erneuten feindseligen Auftretens der durch die Wiener Ereignisse wieder ermuthigten Flüchtlinge. Nachdem sich diese aber Ende Oct. 1848 sogar eines schweizerischen Dampfschiffes auf dem Luganosee mit Gewalt bemächtigt, u. nun auch der sardinische Gesandte wegen ver Einfälle derselben auf sardinisches Gebiet Reclamationen erhoben hatte, beschloß der Vorort deren Verweisung in das Innere der Schweiz u. verstärkte zugleich die eidgenössische Grenzbesetzung. Der tessinische Staatsrath führte den Bundesbeschluß bereitwillig aus, u. am Ende des Jahres 1848 hatten die meisten italienischen Flüchtlinge den Canton verlassen, so daß nun auch die eidgenössischen Truppen zurückgezogen werden konnten. Bei Wiederausbruch der Feindseligkeiten in der Lombardei 1849 erneuerten sich jedoch auch die Umtriebe der Flüchtlinge in T., wie im Mai wieder ein Einfall derselben auf lombardisches Gebiet stattfand, indeß die Drohungen Radetzkys riefen ietzt energische Maßregeln Seitens der Regierung hervor, u. so nahm auch endlich die lombardische Verwaltung ihre strengen Maßregeln zurück, daß Mitte 1850 das frühere Verhältniß wiederhergestellt war. Inzwischen hatte die Regierung von T. ihren Kampf gegen den Clerus nicht aufgegeben. Am 28. Mai nahm der Großrath ein Gesetz an, wonach der Staat die Gymnasien u. höheren Schulen des Cantons übernahm, die religiösen Corporationen u. Institute der Serviten von Mendrisio, der Somascher von Lugano, der Benedictiner von Bellinzona, das Seminar von Poleggio u. das Collegium von Ascona säcularisirt u. die von ihnen bisher benutzten Güter vom Staate zu Gunsten des höheren Erziehungswesens verwaltet u. verwendet, die zu anderen als Erziehungszwecken bestimmten Güter der genannten Anstalten als Staatsschuld anerkannt u. verzinst werden sollten; anstatt der aufzuhebenden geistlichen Lehranstalten sollten an Ort u. Stelle je eine neue errichtet werden. Sowohl der päpstliche Einspruch, als auch eine Note der lombardischen Statthalterei blieben unbeachtet; aber als darauf die Regierung von T. in der Nacht vom 19. auf den 20. Novbr. 1852 22 Kapuziner, weil sie sich der Säcularisation widersetzt hatten, aus ihren Klöstern in Lugano u. Mendrisio vertreiben u. über die österreichische Grenze bringen ließ, u. nun acht derselben als geborene österreichische Unterthanen den Schutz ihrer Regierung anriefen, erhob Österreich bei dem Bundesrath Protest unter der Drohung alle Tessiner aus der Lombardei auszuweisen, worauf der Bundesrath wenigstens so viel vermittelte, daß den ausgewiesenen Kapuzinern der Wiedereintritt in den Canton als einfache österreichische Bürger, jedoch nicht der Wiedereintritt ins Kloster, gestattet u. eine dreijährige Pension zugesichert wurde. Hierbei blieb es vorläufig, obschon sich Österreich für nicht befriedigt erklärte. Aber in Folge des Mailänder Attentates vom 6. Februar 1853 verfügte ein österreichisches Decret vom 16. Februar die sofortige Grenzsperrung u. Ausweisung sämmtlicher Tessiner aus der Lombardei, weil der beabsichtigte Aufstand hauptsächlich von T. aus vorbereitet. u. unterstützt worden war. Denn in dem sofort zwischen dem Bundesrath u. Österreich über die Angelegenheit eröffneten Notenwechsel (s. Schweiz S. 661 f.) wurde nachgewiesen, daß tessinische Blätter den Mailänder Aufstand mit Gewißheit vorher verkündigt, die tessinische Regierung aber dennoch keine Anzeige in Mailand gemacht, daß die Flüchtlinge, Radicalen etc. in Lugano vorbereitende Versammlungen gehalten, daß dort Waffen aufgehäuft worden seien, daß sich wirklich ein Hause Bewaffneter vom Canton aus in Bewegung gesetzt u. daß die Leiter der Bewegung, namentlich Mazzini, sich dort aufgehalten hätten. Obgleich der Bundesrath u. die tessinische Regierung dies Alles in Abrede stellten, wurde dennoch von Österreich die strengste Grenzsperrung gehandhabt, darunter litten aber nicht allein die Grenzorte, welche zum Theil Grundstücke im jenseitigen Gebiet besitzen, sondern auch die Verpflegung der meist mittellosen Ausgewiesenen lastete auf dem Canton, während zugleich Handel u. Verkehr stockten. Um die Verwirrung voll zu machen, erhob sich am 23. März auch noch ein Aufstand gegen die Regierung durch eine Schaar Bauern aus dem Collathale, welche Brod od. Arbeit fordernd in Lugano eindrangen, jedoch durch Gendarmen u. Schützen bald zerstreut wurden. Eine damit zusammenhängende Erhebung in Locarno wurde durch die bewaffnete Macht im Keime erstickt. Inzwischen währten Verhandlungen zwischen Bourgeois u. Radetzky fort, führten aber eben so wenig zu einem günstigen Resultat, wie die diplomatischen Verhandlungen zwischen dem Bundesrath u. dem österreichischen Cabinet. Im Gegentheil wurde die Situation durch die österreichische Note vom 13. April, worin neben neuen Klagen gegen T. die alten Forderungen aufrecht erhalten u. außerdem eine Mitwirkung Österreichs hinsichtlich der Fremdenpolizeiverwaltung in T. beansprucht wurde, nur ernster. Als die T-er Regierung hierauf dem Bundesrathe erklärte, weder die sich noch im Asyl befindenden Flüchtlinge ausweisen, noch hinsichtlich der aufgehobenen Seminarien od. in der Kapuzinerangelegenheit Zugeständnisse machen zu wollen, auch die Antwortsnote des Bundesrathes in der Hauptsache ablehnend ausgefallen war, so rief in Folge dessen Österreich gegen Ende Mai seinen Geschäftsträger aus der Bundesstadt ab. Eine Art Concession von Seiten T-s schien das vom Großen Rath angenommene neue strengere Fremdengesetz zu sein, welches namentlich das bisherige passive schweizerische Bürgerrecht aufhob u. vom 1. Juli an in Kraft trat. Eine Botschaft des Großen Rathes an den Bundesrath vom 18. Sept. forderte unter Hinweis, daß die T-er Frage eine allgemeine schweizerische Frage geworden, zur Ergreifung des letzten Mittels gegen die fremde Gewalt auf, od. wenigstens, daß die gesammte Schweiz für die Folgen der fortgesetzten Bedrängniß T-s einstehe.[401] Zwar war durch die am 16. Juni 1854 erfolgte Aufhebung des Militärcordons österreichischer Seits, nachdem die kaiserliche Regierung sich über die Darlegung der Grundsätze, welche von der Schweiz hinsichtlich der Flüchtlinge beobachtet worden, zufrieden erklärt hatte, eine mildere Handhabung der Grenzsperre eingetreten, namentlich zu Gunsten der aus der Lombardei nach T. Reisenden, doch blieben die übrigen Differenzen auch ferner bestehen. Unruhen, welche Ende September in Lugano stattfanden, ohne eine weiter gehende Bedeutung zu erlangen, regten von Neuem die Agitation für einen Verfassungsrath an. Doch wurde derselbe vom Großen Rath verworfen u. der Staatsrath aufgefordert zu bleiben. Zur Beilegung des Conflictes mit Österreich ertheilte der Große Rath in Folge weiterer diplomatischer Noten, in denen Seiten Österreichs die Flüchtlingsfrage nicht weiter berührt wurde, dem schweizerischen Bundesrath Vollmacht. Am 29. Jan. 1855 begannen in Mailand die Verhandlungen, u. nach langem Unterhandeln kam ein Abkommen dahin zu Stande, den ausgewiesenen lombardischen Kapuzinern (noch 16 an der Zahl) bleibt die Rückkehr in den Canton untersagt, dagegen bezahlt T. zu deren lebenslänglichem Unterhalt die Summe von 115,000 Frcs. Österreich gestattet den tessinischen Angehörigen den Eintritt u. die Niederlassung in der Lombardei u. es tritt überhaupt auf allen Punkten der Status quo ante ein. Nach beiderseitiger Ratification dieses Abkommens wurde die Grenzsperre am 21. April 1855 vollständig aufgehoben, u. sofort erfolgte eine massenhafte Auswanderung der ärmeren Bewohner des Cantons nach der Lombardei.
Inmittelst war der Canton selbst wieder der Schauplatz blutiger Scenen der Parteileidenschaft geworden. Ein gewisser Fr. Degiorgi war am Fastnachtsabend zu Locarno in das Versammlungslocal seiner politischen Gegner eingedrungen u. hatte dort einen Streit erregt, in Folge dessen er ermordet wurde. Dies Ereigniß brachte den ganzen Canton in Aufregung; bewaffnete Banden bildeten sich u. verübten Gewaltthätigkeiten aller Art, namentlich gegen die Pressen der Zeitungen. Die Regierung verfügte zahlreiche Verhaftungen derer von der Opposition, deren bedeutendste Vertreter flohen, u. schrieb ein Zwangsanlehen von 235,000 Frcs. aus. In Bellinzona trat ein von bewaffneten Freiwilligen ernannter Sicherheitsausschuß für den ganzen Canton zusammen, u. Excesse u. Gewaltthätigkeiten auf beiden Seiten steigerten die Verwirrung aufs Äußerste. Doch schritt der eidgenössische Commissar, Oberst Bourgeois, energisch ein, dem Sicherheitsausschusse wurde ein Ende gemacht, die bewaffneten Haufen aufgelöst u. heimgesandt. Im Großen Rath aber wurden auf Antrag einer mit dem Entwurf einer Verfassungsrevision beauftragten Commission elf Reformartikel genehmigt, von denen einer auch den Ausschluß der Geistlichen von allen Behörden verfügte. Vom Staatsrath sollten sofort neue Wahlen für den Großen Rath angeordnet, von dem Letzteren dann die Regierung u. die Gerichte neu bestellt werden. Die Wahlen zum Großen Rath ergaben eine gemäßigt liberale Majorität, u. dem Canton wurde wenigstens einigermaßen die Ruhe wiedergegeben. Doch gab ein Beschluß des Großen Rathes, durch welchen der Austritt des Cantons aus den Diöcesen Como-Mailand u. der kirchliche Verband mit Chur-Solothurn ausgesprochen wurde, einen neuen Anlaß zu Differenzen; der päpstliche Nuntius protestirte u. es folgten langdauernde Verhandlungen. Unter Aufhebung des sehr harten erstinstanzlichen Erkenntnisses sprach das Appellationsgericht in Locarno die wegen der Affaire Degiorgi angeklagten Gebrüder Franzoni frei (April 1856). Seit 1856 wurde der Bau einer Eisenbahn von Bellinzona bis an die bündtnerische Grenze (Lukmanier) in Angriff genommen. In den folgenden Jahren erfreute sich der Canton einer verhältnißmäßigen Ruhe; 1857 wurde wieder ein Kloster, das der Augustinerinnen auf Monte Carasso, aufgehoben, doch wurden die. Nonnen entschädigt. Die Angelegenheit der kirchlichen Lostrennung des Cantons von den Bisthümern Como-Mailand wurde in die Hände des Bundesrathes gelegt; die Bundesversammlung beauftragte im Juli 1859 denselben, indem sie den Grundsatz aussprach, jede auswärtige Episkopaljurisdiction auf Schweizergebiet ist aufgehoben, mit Verhandlungen bezüglich einstweiliger Vicariate, sowie des künftigen Bisthumsverbandes u. Vereinigung der Temporalien unter Vorbehalt der Ratification der bezüglichen Verträge durch die Bundesversammlung. Bei den Neuwahlen zum Großen Rathe im Febr. 1859, welche wiederum nicht ohne Unruhen u. Blutvergießen blieben, behauptete die liberale Regierungspartei noch einmal den Sieg. Die Hinneigung derselben zu Unterstützung der sardinisch-französischen Politik gegen Österreich nöthigte den Bundesrath, zum Zweck der Aufrechterhaltung der von ihm erklärten strengen Neutralität, zu mehrfachem Einschreiten gegen das Treiben der Demokratie, scharfer Bewachung der Grenze, Beschlagnahme von Waffen u. Internirung der Fremden. Doch wurde auch von der Cantonalregierung eine von Mailand ausgegangene anonyme Proclamation, in welcher die Tessiner zum Anschluß an Italien aufgefordert wurden, zurückgewiesen. Die Wahlen im Febr. 1859 u. einige spätere Nachwahlen hatten Beschwerden der Conservativen beim Bundesrath veranlaßt, in deren Folge von letzterem elf Großrathswahlen cassirt wurden. Dem Recurs, welchen die T-er Regierung hiergegen an die Bundesversammlung einwandte, wurde zwar nach mehrfachen Verhandlungen u. nachdem die betreffenden Gewählten freiwillig ihre Demission eingereicht hatten, nicht weiter Folge gegeben; doch wurden bei den Neuwahlen für dieselben (Aug. 1860) nur Conservative gewählt. Versuche eine Versöhnung der Parteien zu bewirken, hatten nur theilweisen Erfolg. Über die noch immer unerledigte Bisthumfrage traten im Novbr. 1860 eidgenössische Abgeordnete mit einem Beauftragten des Papstes zu einer Conferenz zusammen; doch hatte dieselbe keinen Erfolg, worauf der Bundesrath Sequester auf die in T. gelegenen zur Mensa des Bischofs von Como gehörigen Güter legte, was wieder zu diplomatischen Schwierigkeiten mit der Regierung in Turin führte. Conferenzen, welche hierüber von Neuem in Turin abgehalten wurden, scheiterten (Aug. 1861) an den nicht annehmbaren Propositionen Seitens der italienischen Regierung. Auch im Jahr 1862 wurden diese Verhandlungen ohne Erfolg fortgesetzt. Annexionistische Wühlereien zu Gunsten des neuen Königreichs Italien hielten T. bis in die neueste Zeit in fortdauern der Aufregung. Doch veranlaßten Äußerungen Durando's, des[402] italienischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten, über eine mögliche Trennung T-s von der Schweiz, durch den ganzen Canton zahlreiche Proteste, welche vom Staatsrath (September 1862) dem Bundesrath als Beweis der Anhänglichkeit an die Eidgenossenschaft übermacht wurden. Am 11. Jan. 1863 stürzte unter dem Gewicht einer ungeheueren Schneemasse der Dachstuhl der Pfarrkirche in Locarno zusammen u. erschlug 38 Frauen u. einen Mann, während viele andere schwer verletzt wurden.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.