Westfalen [4]

Westfalen [4]

Westfalen (Königreich W.). Nach der Schlacht bei Jena waren die Staaten des Kurfürsten von Hessen u. des Herzogs von Braunschweig von den Franzosen besetzt u. ihre Regenten zur Flucht genöthigt worden; im Frieden von Tilsit wurde ihrer Wiedereinsetzung nicht gedacht, wohl aber dem Kaiser Napoleon I. die Befugniß ertheilt ein neues Königreich zwischen Elbe u. Rhein zu schaffen, welches von einem französischen Prinzen regiert werden sollte. Des Kaisers jüngster Bruder, Jerome (Hieronymus, s. Bonaparte 35), wurde zum König dieses Königreichs W. bestimmt, nachdem er zuvor durch einen kaiserlichen Befehl von seiner Gemahlin, der Nordamerikanerin Elisabeth Patterson, geschieden worden war u. sich mit Friederike Katharina, der Tochter des Königs Friedrich von Württemberg, am 23. Aug. 1807 vermählt hatte. Ein kaiserliches französisches Decret vom 18. Aug. 1807 setzte den Bestand des Königreichs fest. Dasselbe sollte aus der Altmark, Magdeburg, so weit es auf dem linken Elbufer lag, u. einem Rayon von 1 Meile im Durchmesser auf dem rechten Elbufer, aus Hildesheim, Goßlar, Halle u. Mansfeld, Halberstadt u. Quedlinburg, Eichsfeld, Mühlhausen, Paderborn, Minden, Ravensberg u. Stolberg; ferner aus den ehemals hannöverschen Fürstenthümern Göttingen, Grubenhagen u. Osnabrück, aus dem Kurfürstenthum Hessen, mit Ausnahme von Hanau u. Katzenellnbogen, aus dem Herzogthum Braunschweig, der Grafschaft Kaunitz-Rietberg, dem Gebiete von Korvey u. aus dem sächsischen Antheil an Mansfeld u. den Ämtern Gommern, Querfurt, Barby u. Treffurt, zusammen aus 688 QM. mit 1,911,150 Ew. bestehen. Das Einkommen betrug 9,250,000 Thlr. Zum Rheinbund sollte W. 25,000 Mann stellen. Durch ein Decret vom 24. Dec. 1807 wurde es in 8 Departements getheilt: das der Elbe, der Saale, der Ocker, des Harzes, der Leine, der Werra, der Fulda u. der Weser. Hauptstadt u. Residenz war Kassel, zweite Residenz Braunschweig. Die Bewohner des Königreichs fügten sich nur ungern unter das neue Regiment, nur einige Provinzen, welche früher ihren ursprünglichen Herrn mit der preußischen Herrschaft vertauscht hatten (z.B. Hildesheim u. Paderborn), nahmen das neue Regiment Anfangs mit Freuden auf. Zahlreiche rückständige Contributionen wurden eingetrieben, die Einquartierung u. die Durchmärsche der Franzosen hörten nicht auf. Im Osnabrückischen u. Hessischen brachen schon im September 1807 Aufstände aus, weil die Landleute die ungewohnten Steuern nicht zahlen wollten, u. die Ruhe mußte durch Waffengewalt hergestellt werden. Die Staatsschuld wuchs ungeheuer, schon 1808 wurde sie auf mehr als 28 Mill. Thlr. berechnet. Im August 1807 trafen, nachdem eine Deputation aus allen Provinzen nach Paris gegangen war, um den noch dort befindlichen König zu beglückwünschen, organisirende Staatsräthe als provisorische Regentschaft in Kassel ein. Der Staatsrath Jollivet hatte die Oberaufsicht über Finanzen u. Domänen, Simeon über die Justiz, Beugert über die Verwaltung des Innern u. Lagrange organisirte die Armee. Die Constitution des Reichs, am 15. Nov. von Napoleon u. am[126] 7. Nov. 1807 vom König anerkannt, bestand aus 13 Titeln u. 55 Artikeln. In ihr behielt sich Napoleon die Verfügung über die Hälfte der Domänen zu Gunsten seiner Generale vor. Es gab 4 Minister; die Reichsstände bestanden aus 100 Mitgliedern (70 Grundeigenthümern, 15 Kaufleuten od. Fabrikanten u. 15 Gelehrten). Der Staat wurde nach der Departementalmunicipal- u. Büreauverfassung verwaltet, der Code Napoléon eingeführt, eben so die Conscription. Alle Corporationen, Privilegien etc. wurden aufgehoben, die Leibeigenschaften abgeschafft; eine gleiche Steuerverfassung, gleiches Maß u. Gewicht eingeführt. Das Königreich hatte drei Universitäten Göttingen, Halle u. Marburg (Helmstädt u. Rinteln wurden aufgehoben). Im Staatshaushalt wurde nach Franken gerechnet, indessen bestand der 24 Guldenfuß u. das alte Kassengeld nebenbei. Später wurde der Orden der westfälischen Krone gestiftet, s. Westfälischer Kronenorden. Am 10. Dec. 1807 hielt König Jerome seinen Einzug in Kassel, verkündete am 15. Dec. den Antritt seiner Regierung, löste die provisorische Regentschaft auf, ernannte die drei französischen Staatsräthe u. den General Lagrange zu seinen Ministern u. bildete den Staatsrath aus geeigneten Männern, von Wolfradt, von Dohm, von Bülow etc. Am 1. Jan 1808 erfolgte die Huldigung des Königs durch Deputirte vom Adel, der Geistlichkeit u. Kaufmannschaft u. kurz darauf die definitive Organisation des Staatsraths u. der Armee. Die Armee bestand aus den königlichen Garden zu Fuß u. zu Pferd, etwa 4000 Mann, der Gendarmerie, 1 Artillerieregiment, 8 Linieninfanterieregimentern, 4 leichten Bataillonen, 6 Cavallerieregimentern, 6 Veteranen- u. 8 Departementscompagnien, im Ganzen mehr als 30,000 Mann. In jedem Departement wurde ein commandirender General angestellt u. am 28. Febr. 1808 der General Morio zum Kriegsminister ernannt; doch blieb er dieses nur bis in den November, wo er mit einer 6000 Mann starken Division nach Spanien gesandt wurde. An seine Stelle kam der französische Divisionsgeneral Eble. Endlich wurde auch am 23. Jan. 1808 die Leibeigenschaft, alle persönlichen Dienste, ungemessene Frohnen, Zwangsgesindedienst, Einwilligung der Herrschaft zur Verheirathung etc. aufgehoben u. alle übrigen Frohnen wurden ablösbar, auch die Gerichtsverfassung für W. publicirt. In Kassel wurde ein Appellationsgericht, in jedem Departement ein Criminalgericht, in jedem District ein Districtgericht u. in jedem Canton ein Friedensgericht errichtet; alle Patrimonialgerichtsbarkeit hörte auf. Eine hohe Polizei wurde im Sept. 1808 eingeführt, aber es konnten sich kaum die Präfecten, viel weniger die Maires in die von ihr gegebenen Vorschriften schicken. Anfang 1808 erschienen auch Finanzgesetze, welche nicht nur alle Privilegien u. Accisebefreiungen aufhoben, sondern auch alle bisher steuerfrei gewesenen Grundstücke, selbst die königlichen Domänen nicht ausgenommen, mit Grundsteuer belegten, welche provisorisch auf 1/8 des Ertrags festgestellt wurde. Im März d. I. begannen die Wahlen zu dem ersten Westfälischen Reichstag, welcher am 2. Juli durch den König selbst eröffnet wurde. Man fand hierbei, daß die Schuld des Königreichs 112,667,750 Fr. betrug u. daß ein jährliches Einkommen von 37,375,000 Fr. dem Staate nöthig war, welche Summe um so schwieriger aufzubringen war, da von den Reichsdomänen dem König fast nichts übrig blieb, als der Ertrag aus den Forsten, Bergwerken. u. Eisenhämmern. Um das Deficit zu decken, sah man sich zu Anleihen genöthigt, die aus freiwilligen bald in gezwungene sich verwandelten. Unter solchen Umständen fand der Aufruf Österreichs an die Deutschen im Frühjahr 1809 in W. viel Anklang, u. Katts u. Dörnbergs Unternehmen, Schills Streifzug u. der Aufstand des hessischen Oberst Emmerich am 24. Juni im Marburgischen, so wie der Zug des Herzogs von Braunschweig-Öls nach der Weser (s.u. Österreichischer Krieg von 1809) bewiesen den für die Regierung ungünstigen Geist der Westfalen. Während des Krieges von 1809 u. als die Österreicher im Juni in Sachsen eingerückt waren, hatte der König Jerome Kassel am 18. Juni mit seiner Garde u. einem bergischen Regiment verlassen u. war mit dem General Gratien, welcher Holländer, u. d'Albignac, welcher Franzosen commandirte, in Sachsen eingerückt u. hatte die Österreicher zum Rückzug bewogen, Alles aber hatte Geld gekostet u. machte neue Anstrengungen nöthig. Am 28. Jan. 1810 wurde also der zweite Westfälische Reichstag eröffnet, u. hier zeigte es sich, daß alle mögliche Einnahmen bei weitem noch nicht die für das Budget nöthige Summe erreichten. Die Aufhebung der Klöster u. Stifter, die Pensionirung der darin befindlichen Personen u. der Verkauf ihrer Güter war nur ein Palliativmittel u. es mußte eine neue Anleihe von 40 Mill. Fr. für 1811 ausgeschrieben u. eine Einkommensteuer aufgelegt werden. Im März 1810 wurde zwar der größte Theil von Hannover außer Lauenburg (468 QM. u. 647,000 Ew.), woraus drei neue Departements, das des Nordens, der Niederelbe u. der Aller, gebildet wurden, mit W. vereinigt, aber Hannover war fast 7 Jahre lang von den Franzosen ausgesogen u. fast alle Domänen an französische Generale vertheilt, auch mußte Anfang 1811 der König alles Land zwischen der Nordsee u. einer von dem Einflusse der Lippe in den Rhein über Haltern, zur Ems oberhalb Telgte, sodann zum Einfluß der westfälischen Werra in die Weser u. endlich zur Elbe oberhalb des Einflusses der Steckenitz in dieselbe gezogene Linie an Frankreich abtreten, so daß es nun nur noch 825 QM. mit 2,056,973 Ew., wenig mehr als früher, besaß. W. wurde nun neu eingetheilt u. zwar wieder in acht Departements (der Aller, Elbe, Fulda, Leine, Ocker, Saale, Werra u. des Harzes). Nach einem Vertrage vom 14. Jan. 1810 hatte W. die Verpflegung von 18,000 Mann Franzosen übernehmen müssen, wofür die Contribution, welche die verschiedenen Provinzen von 1806 her an Frankreich zu zahlen hatten, bis auf 4 Mill. Thlr. vermindert wurden. Durch alles dies sanken die Staatspapiere bis auf 50 Procent herab. 1812 wurde die ganze westfälische Armee mobil gemacht u. brach im Frühjahr nach Polen auf, um dort das achte Corps der großen Armee zu bilden, welches der König selbst u. unter ihm der General Vandamme, später aber, als diese dasselbe verließen, der General Junot befehligte. Im Innern aber wurde nach französischem Muster eine Nationalgarde gebildet, zugleich aber auch eine gezwungene Anleihe von 5 Mill. Fr. ausgeschrieben, die Zinsenzahlung der Staatsschuld sistirt u. die alte Nationalschuld auf 1/3 ihres Werthes herabgesetzt. Als die Armee 1812 in Rußland vernichtet worden war, vermochte W. vor Anfang 1813 nur einen kleinen Theil wieder herzustellen.[127] Um die Mittel hierzu zu schaffen, wurde die Grundsteuer auf 1/5 des reinen Ertrags gesteigert, aber doch fehlte es überall an Geld, u. die Androhung der Todesstrafe für jede Desertion u. die dreijährige öffentliche Zwangsarbeit für jeden widerspenstigen Conscribirten, die immer schärfer werdende Aufsicht der geheimen Polizei zeigte deutlich, daß das Volk W-s der Regierung durchaus entgegen war. Eine westfälische Division focht unter Macdonald an der Katzbach u. bei Leipzig, eine Brigade aber stand zu Magdeburg u. war mit im Gefecht bei Hagelsberg. Schon am 25. Sept. wurde Braunschweig von dem Marwitzschen Freicorps überfallen, während Tschernyschew zwischen Witzenhausen u. Melsungen durchging, die zur Beobachtung am Harz u. in Göttigen aufgestellten Detachements unter Bastineller u. Zandt vermied u. am 28. Sept. vor Kassel erschien, welches Alix vertheidigen sollte, während der König floh. Indessen war eine Vertheidigung Kassels bei der üblen Stimmung der Bevölkerung unmöglich, u. so capitulirte Alix am 30. Sept. u. zog mit der schwachen Besatzung ab. Tschernyschew erklärte nun am 1. Oct. das Königreich für aufgelöst, zog am 3. wieder von Kassel ab u. an die Elbe zurück, worauf Alix, zum Lieutenant des Königs ernannt, die Hauptstadt mit einigen Truppen wieder besetzte. Am 17. Oct kam auch der König nach Kassel zurück, aber schon am 26. Oct. ging er auf immer davon. Die Auflösung des Königreichs W. war die nächste Folge der Leipziger Schlacht u. es verschwand, ohne daß irgend eine diplomatische Verhandlung darüber Statt gefunden hatte. Vgl. Hassel, Das Königreich W. statistisch dargestellt, Braunschw. 1807; Ersch, Handbuch über das Königreich W., Halle 1808; Statistisches Repertorium über das Königreich W., Braunschw. 1813; Topographisch-militärischer Atlas über das Königreich W., Weim. 1813, 27 Bl.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Westfalen AG — Rechtsform Aktiengesellschaft Sitz Münster, Deutschland Le …   Deutsch Wikipedia

  • Westfalen [5] — Westfalen, Provinz des preußischen Staates, 1815 gebildet aus Theilen der Hochstifte Münster, Minden u. Paderborn, dem Fürstenthum Siegen, dem Herzogthum W., den Grafschaften Mark mit Hohen Limburg, Tecklenburg, Oberlingen u. Ravensberg, der… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Westfalen — Westfalen …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Westfalen [3] — Westfalen (hierzu Karte »Westfalen«), Provinz des preuß. Staates, wurde 1815 gebildet aus dem Herzogtum W. und Engern (s. oben, S. 558), dem Fürstentum Minden, der Grafschaft Tecklenburg Solmsschen Anteils, den Grafschaften Lingen und Ravensberg …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Westfalen [1] — Westfalen, im Mittelalter der westliche Theil des alten Sachsenlandes, umfaßte ungefähr das Innere des spätern Westfälischen Kreises. auf dem rechten Rheinufer; es grenzte an das Land der rheinischen Franken, der Friesen, der Nordalbinger, der… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Westfalen [2] — Westfalen (Westfälischer Kreis, Niederrheinisch Westfälischer Kreis), zu Zeiten des Deutschen Reichs das Land zwischen Niedersachsen, den Niederlanden, Thüringen u. Hessen, war theilweise von dem Niederrheinischen Kreise durchzogen, grenzte an… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Westfalen [3] — Westfalen (Herzogthum W.), sonst Herzogthum im Kurrheinischen Kreise, von dem alten Herzogthum Sachsen, nach Heinrichs des Löwen Fall, 1180 losgerissen u. dem Kurfürsten von Köln gehörig, umgeben von Waldeck, Hessen Kassel, Hessen Darmstadt,… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Westfalen [1] — Westfalen, Herzogtum, gehörte ursprünglich zum Herzogtum Sachsen und bildete dessen westlichen Teil (vgl. Sachsen, S. 369). Bei der Auflösung des Herzogtums Sachsen, nach der Ächtung Heinrichs des Löwen (s. Heinrich 14) 1180, erhielt Erzbischof… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Westfalen [2] — Westfalen, ehemaliges Königreich (s. »Geschichtskarte von Deutschland V«), Vasallenstaat des franz. Kaiserreichs, von Napoleon I. dem Tilsiter Frieden gemäß durch Dekret vom 18. Aug. 1807 aus dem Herzogtum Braunschweig, Kurhessen (ohne Hanau,… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Westfalen — (Westphalen), im frühesten Mittelalter der westl. Teil des Hzgt. Sachsen, zwischen Weser und Rhein, kam nach dem Sturz Heinrichs des Löwen 1180 an das Erzstift Köln als Hzgt. W. und bildete den Hauptbestandteil des Westfäl. Kreises im ehemal.… …   Kleines Konversations-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”