- Waldenser
Waldenser (v. fr. Vallése, d.i. Thalleute, Thalbewohner), 1) christliche Religionspartei, welche sich im Mittelalter von der Katholischen Kirche lossagte u. welche noch jetzt in Italien u. anderwärts fortbesteht. I. Ihre Entstehung u. Geschichte. Die in dem 12. Jahrh. entstehenden Bewegungen gegen die Römisch-Katholische Kirche fanden auch in Lyon ihre Anhänger, wo in der zweiten Hälfte des 12. Jahrh. ein Bürger (Petrus) Waldus (s. unten) auftrat, welcher nach unverdächtigen katholischen Zeugnissen seiner Zeit u. nach älteren waldensischen Zeugnissen als der eigentliche Stifter der W. anzusehen ist, obschon bereits früher die unter dem Namen der Albigenser (s.d.) vorkommenden Bewohner der Thal- u. Berggegenden von den Alpen bis zu den Pyrenäen eine ganz verwandte Richtung verfolgten, indem sich bei ihnen eine dem Urchristenthum ähnliche, einfache Lehre erhalten hatte. Diese Gemeinden bildeten sich schon unter Karl dem Großen u. Ludwig dem Frommen, unter dem, dem Kirchenaberglauben abholden Bischof Claudius von Turin u. hatten an mehren erleuchteten Männern jener Zeit Beschützer u. Vertheidiger, wiewohl die Katholische Kirche, von deren Oberhaupt u. allmälig in Lehre u. Cultus eingeführten Satzungen sie nichts wissen. wollten, Versuche zu ihrer Verfolgung machte. Die Unterdrückung gelang der Katholischen Kirche wohl deshalb nicht, weil im 9. bis 11. Jahrh. heftige Bewegungen Europa beschäftigten u. die W. in ihren abgelegenen Thälern sich der scharfen Aufmerksamkeit entzogen. Jener Waldus (Waldes, Waldius, de Vaux), ein reicher Kaufmann von Lyon, von welchem nach Einigen die Partei den Namen W. erhielt, während sie früher gewöhnlich nach dem Orte ihres Entstehens Leonistae od. Pauperes de Lugduno hießen, ließ durch zwei Priester die Evangelien in die Romanische Volkssprache übersetzen, beschäftigte sich selbst mit Lesen dieser Schrift, u. es wurde ihm dadurch klar, daß die Katholische Kirche in Lehre u. Leben sehr von der ursprünglichen abgewichen sei. Er lehrte in Lyon laut den Unterschied zwischen der päpstlichen u. biblischen Lehre u. kam dadurch bald in Differenzen mit der Katholischen Kirche. Die Anzeige des Erzbischofs Johann von Lyon beim Papst Alexander III. bewirkte 1179 einen Befehl, daß die W. ihre Zusammenkünfte einstellen sollten. Dennoch lehrte Waldus fort, u. nicht allein in Frankreich, sondern auch in Italien u. Böhmen (wo die W. Grubenheimer hießen, weil sie in Gruben ihre Versammlungen hielten), in welchem letzteren Lande er starb, nachdem er vorher noch 1184 auf dem Concil zu Verona mit seinen Anhängern verdammt u. mit dem Bann belegt worden war. Ungeachtet aller Verfolgungen u. der Erneuerung des Bannes auf dem vierten Lateranconcil 1215 nahmen die W. im 13. Jahrh. in Südfrankreich,[799] in Spanien u. in der Lombardei (wo sie nach der Stadt Concordia Concordenses hießen) sehr über Hand u. außer in den Gebirgsthälern von Piemont (daher auch Piemontesische W.) hatten sie eine Freistätte im Gebiet des Grafen von Toulouse u. Foix, aber auch dort wurde ihr Aufenthalt durch die Inquisition unsicher gemacht, u. die Synode zu Tarragona 1242 verdammte sie nochmals u. befahl ihre Verfolgung. Nun folgten Hinrichtungen in Menge, doch blieb noch immer eine große Anzahl W. in Languedoc, der Provence u. Dauphiné, in Spanien u. den unzugängigen Thälern von Savoyen u. Piemont, u. da diese Thäler sie später nicht alle fassen konnten, so wanderten viele nach Deutschland, Preußen u. Böhmen aus. In dem letzteren Lande traten sie in nähere Beziehung zu den Böhmischen Brüdern. Aber die Hauptverfolgungen wendeten sich auch bes. gegen jene Thäler, u. 1477 ließ Sixtus IV. sogar einen Kreuzzug gegen die dortigen W., predigen. In Frankreich schützte sie Ludwig XII. durch ein Edict von 1478 u. bezeichnete nur diejenigen als Häretiker, welche antikatholische Sätze verteidigten, wodurch indeß bald die Verfolgungssucht neuen Spielraum gewann. Doch trat auch unter den W-n eine doppelte Richtung hervor, indem die Einen die Verbindung mit der Katholischen Kirche festzuhalten suchten, die Anderen aber mehr u. mehr von derselben sich trennten. Seit der Reformation war ihr Schicksal innig mit dem der schweizerischen u. französischen Reformirten, an welche sie sich angeschlossen hatten, verbunden. In Piemont waren sie im 16. u. 17. Jahrh. sehr bedrückt u. nur in kurzen Intervallen konnten sie sich einer Ruhe erfreuen, welche ihnen die Verwendung protestantischer Fürsten erwarb. Am härtesten wurden sie seit 1680 verfolgt; von einem französischen u. italienischen Heere angegriffen, wurden ihrer 3000 getödtet, 10,000 ins Gefängniß geworfen u. 3000 ihrer Kinder in katholische Orte vertheilt; erst 1681 wurde ihnen gestattet auszuwandern, u. etwa 5000 gingen nach der Schweiz, Holland, Brandenburg, Hessen (wo schon im 12. Jahrh. eine Waldensergemeinde war) u. Württemberg (hier erhielten sie 1699 einen Concessionsbrief für freie Religionsübung; man zählt noch jetzt an 1600 W. in Württemberg, welche in zehn Gemeinden vertheilt sind), doch hingen viele an ihren väterlichen Sitzen u. 1689 unternahmen es 8–900, unter Anführung eines ihrer Prediger Heinrich Arnaud, bewaffnet von der Schweiz aus zurückzukehren. Zwar mußten sie Anfangs der Übermacht Frankreichs weichen, doch erhielten sie einen Bundesgenossen an dem Herzog von Savoyen, welcher sich mit Frankreich entzweit hatte; er rief 1694 alle Flüchtlinge zurück, gab die Gefangenen vollends frei u. machte sie zu Wächtern seiner Grenze. Außerdem kamen 1631–1632 in den Thälern über 10,000 W. durch die Pest um, welche durch fremde Krieger eingeschleppt worden war. Da 1730 durch eine neue Verfolgung wieder viele wegzogen u. den Zurückbleibenden ihre Besitzungen wieder verengt wurden, so erhielten sie von ihren reformirten Glaubensbrüdern in England, Holland u. der Schweiz Unterstützungen. Mit dem 19. Jahrh. trat eine wesentliche Besserung ihrer Lage ein, die Bedrückungen hörten auf, ihre kirchliche Gestaltung wurde fester begründet u. die Verbreitung ihrer Lehre in weiteren Kreisen nahm zu. Napoleon I., welcher ihre Kirchenverfassung ordnete u. überhaupt viel Interesse an ihnen nahm, wies ihren Geistlichen als Gehalt Ländereien an, welche aber 1814 nach der Restauration des Königs Victor Emanuel, durch jesuitischen Einfluß, wieder eingezogen wurden, doch ertheilte der König auf Verwendung des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen, welcher ihr fortwährender Schützer war, 1816 jedem Geistlichen einen leidlichen Gehalt, zu welchem noch eine kleine Zulage von den Gemeinden kommt. 1826 wurde durch Preußen eine Collecte für sie eingesammelt, durch welche die gedrückte Lage ihrer Kirche etwas gemindert wurde. Unter Karl Albert von Savoyen (1831–1849) war Anfangs ihre Lage bedenklich, doch verwendeten sich die Regierungen von Preußen u. Holland für sie u. verschafften ihnen in Turin eine mit dem preußischen Gesandtschaftshause verbundene protestantische Kapelle. Durch die Synode von St. Jean 1839 wurde die Kirchenverfassung aufs Neue geordnet. Nach dem Tode des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen begannen 1840 die drückenden Maßregeln gegen die W. wieder; denn da sich ihre Zahl sehr vermehrt hatte, so hatten sie, allerdings gegen die bestehende Verordnung, auch außerhalb ihrer Thäler kleine Besitzungen erworben u. sich Wohnhäuser erbaut; jetzt mußten sie diese Besitzungen verlassen u. sich in ihre Schluchten zurückziehen, 1844 starb auch ihr hochherziger Schützer im Namen Preußens, der Graf Friedrich Ludwig Truchseß-Waldburg-Capustigal, preußischer Gesandter in Turin, neben welchem bes. Gilly aus Norham u. Oberst Backwith für sie wirkten, Letzter bes. für das Schulwesen, Seit dem Jahre 1848 hat sich ihre Lage in Piemont wesentlich gebessert, sie erhielten durch Patent vom 17, Febr. 1848 mit den übrigen. Unterthanen gleiche bürgerliche u. politische Rechte, konnten gelehrte Schulen u. Universitäten besuchen u. akademische Würden erlangen u. 1854 wurde eine neue Kirche der W. in Turin eingeweiht. Seit der Zeit haben sie in Piemont u. anderen italienischen Staaten Gemeinden gegründet u. die Verbreitung des Evangeliums in Italien zu fördern gesucht. So gibt es waldensische Gemeinden in Genua (mit Kirche), Florenz (mit Kirche seit 1863), Bologna, Modena, Livorno, Perugia, Ancona, Siena, Todi, auf Elna, in Neapel u. Palermo, welche von der Waldensischen Synode unabhängig sind. In den Stationen außerhalb Piemont, wo sich 1862 etwa 1500–2000 Italiener zum Gottesdienst der W. hielten, hatten sie 1863 40 Agenten, nämlich 16 Geistliche, 16 Lehrer u. Lehrerinnen u. 8 Evangelisten. Ihre theologische Schule od. Gymnasium ward 1860 von La Tour nach Florenz verlegt, u. die dortige theologische Facultät hatte 1863 zwei Professoren, welche an ihr lehrten, so wie sie daselbst noch zwei Schulen u. eine Buchdruckerei besaßen, in der sie die Bibel in Italienischer Sprache druckten Durch den Gustav-Adolwerein sind den Wu namhafte Unterstützungen zu Theil geworden. Man rechnet in den piemontesischen Thälern (Val de Lucerne, V. de Pérouse u. V. de St. Marin) auf 12 QM., in 24 Ortschaften 22,000 W.; vor 300 Jahren waren deren an 80,000 dort. Von den Waldensergemeinden außerhalb Italien s. oben. Außerhalb Europa besteht eine Waldensergemeinde in Rosario Oriental im Staate Uruguay, welche 1863 bereits 400 Seelen zählte u. einen eigenen Geistlichen, so wie eine eigene Schule besaß.
II. Lehre, Cultus u. Verfassung der[800] W. In ihren Lehren u. Gebräuchen hat sich im Laufe der Zeit mancherlei verändert. Bei ihrem Auftreten hielten sie an den in den Evangelien niedergelegten Lehren fest u. bezeichneten dieselben als Richtschnur für ihr Leben u. ihre Predigt. Sie betrachteten sich nicht als von der Kirche ausgeschlossen, verwarfen aber das Mißbräuchliche in derselben, z.B. die Fürbitte der Heiligen, die sieben Sacramente, indem sie nur Taufe u. Abendmahl feierten etc., obschon hierin unter den W-n der verschiedenen Länder keine vollkommene Übereinstimmung herrschte. In der Reformationszeit, wo sie bes. mit Ökolampadius, Bucer u. Capito in Verbindung traten, vollzog sich allmälig ihre gänzliche Trennung von der Katholischen Kirche u. ihre Annäherung an die Evangelische Kirche u. deren Lehrbegriff, bei welcher sie auch trotz aller Verfolgung (s. oben) beharrten. Ihre Lehren finden sich in den Beschlüssen der Synode zu Angrogne 1532 u. in dem von Morel den reformirten Theologen Ökolampadius u. Bucer vorgelegten Glaubensbekenntniß. Als Prediger derselben traten Anfangs Männer u. Frauen auf, bald aber unterschieden sich diejenigen, welche predigten, durch eine der Mönchstracht ähnliche Kleidung, sie hatten oben geöffnete Holzschuhe u. hießen daher Sbatati (von Sabot, Zabote, nach And. von Sabbath abgeleitet, weil sie nur den Sonntag feierten). Auch wurden sie Anfangs Barbes (Oheime) genannt. Später bildete sich ein besonderer Predigerstand, welcher wegen der Verfolgungen die unterscheidende Kleidung aufgab. Die Geistlichen, Boni homines genannt, waren oft auf Reisen, um die Gemeinden durch Predigt u. Sacrament zu befestigen, wegen der Katholiken verkleideten sie sich, vertheilten Schriften u. lasen Abschnitte der Bibel vor, woran sie erbauliche Betrachtungen knüpften Ihre Prediger brauchten früher nicht studirt zu haben, nachmals studirten sie bes. auf den reformirten Universitäten der Schweiz u. auch in Berlin seit 1833, indem Friedrich Wilhelm III. für zwei W. Stipendien dort gestiftet hatte, jetzt besitzen sie in Florenz eine eigne theologische Facultät (s. oben). Sie werden seit neuester Zeit auf das Glaubensbekenntniß der Synode zu Angrogne von 1655 verpflichtet. Cultus u. Kirchenverfassung ist einfach, wie bei den Reformirten. Seit der Reformation verschwand das frühere waldensische Sprachidiom, welches in den piemontesischen Thälern herrschte, u. welches mit dem romanischen verwandt war, wie sich aus mehren noch vorhandenen waldensischen Schriften ergibt, u. man gebrauchte namentlich seit dem 17. Jahrh., wo man französische, mit jener Sprache unbekannte Geistliche aus der Schweiz herbeizog, die Französische Sprache beim Gottesdienst, wie man überhaupt die gottesdienstlichen Gebräuche u. die Liturgien der Reformirten Kirche einführte. Nach der Kirchenverfassung von 1839, welche die Synodalbeschlüsse von Angrogne 1655 u. das dort aufgestellte Glaubensbekenntniß als Symbolisches Buch anerkannte, werden die von den Familienvätern gewählten Geistlichen von der Synode bestätigt. Die Synode, aus Geistlichen u. Laien begehend, versammelt sich alle fünf Jahre abwechselnd in den drei Thälern St. Martin, Perose u. Luserna (La Tour) u. ist die oberste gesetzgebende Behörde. Die ausführende Behörde heißt die Tafel (Table), deren fünf Mitglieder die Synode wählt. Jede Gemeinde hat einen Kirchenrath, aus Geistlichen, u. Laien bestehend. Früher waren bes. die Dominicaner geschäftig ihnen allerhand Unwürdigkeiten anzudichten, um sie zu verdächtigen (bes. Reyner in der Summa contra Waldenses), so wurde von ihnen erzählt: Männer u. Weiber kämen des Nachts in finsteren Höhlen zusammen u. nach Auslöschung der Lichter schrien die Priester: wer zugreifen kann, der greise zu! die Weiber könnten sich nach Belieben von ihren Männern trennen; alle Sachen, selbst die Weiber hätten sie gemeinschaftlich, sie verwürfen die Kindertaufe, beteten die Priester an, hegten, keine Ehrfurcht für heilige Orter, hielten es für ein Verdienst die katholischen Priester zu verfolgen etc. Vgl. Jak. Brez, Geschichte der W., Lpz. 1798, 2 Thle.; Keller, Abriß der Geschichte der württembergischen W., Tüb. 1796; von Moser, Actenmäßige Geschichte der W., in Württemberg insbesondere, Zür. 1798; Rößler, Geschichte der W., Merseb. 1825; Diterici, Die W. u. ihre Verhältnisse zu dem brandenburgisch-preußischen Staate, Berl. 1831; Muston, Hist. des vaudois des Vallées du Piemont, Par. 1834; Monastier, Hist de l'églesie Vaudoise, Lauf. 1847, 2 Bde.; Am. Bert, I Valdesi, Turin 1849; Al. Muston, L'Israel des Alpes (Première hist. des Vaudois du Piemont et leurs colonies), Par. 1851, 4 Bde.; F. Bender, Geschichte der W., Ulm 1850; Dieckhoff, Die W. im Mittelalter, Gott. 1851; Herzog, Die romanischen W., Halle 1853; Weiß, Die Kirchenverfassung der piemontesischen Waldensergemeinde, Zür. 1844. Über die ältere Waldensische Sprache schrieb Grützmacher im 16. Bde. von Herrigs Archiv für das Studium der neuern Sprachen u. Literatur, 1854. Die Morlandsche Sammlung Waldensischer Schriften (welche Morland 1658 aus Piemont nach England gebracht u. in der Universitätsbibliothek zu Cambridge niedergelegt hatte) ist 1862 von Bradshaw wieder entdeckt u. ihr Inhalt in den Veröffentlichungen der Cambridge Antiquarian Society No. XVIII., 1862 angegeben worden; sie enthält Übersetzungen aus der Bibel, Predigten, theologische Tractate, Lieder, auch profanwissenschaftliche Abhandlungen. 2) Mißbräuchlich so v.w. Böhmische Brüder, weil viele der wahren W. sich an diese anschlössen.
Pierer's Lexicon. 1857–1865.