Platon [1]

Platon [1]

Platon, 1) P. der Komiker, Dichter der älteren u. mittleren Attischen Komödie, Zeitgenoß des Sokrates u. des Aristophanes, dessen Feind er war; seine Komödien sind verloren. 2) P. der Philosoph (hieß eigentlich Aristokles, bekam den Namen P. entweder wegen seiner breiten Brust u. Stirn, od. wegen des breiten Flusses seiner Rede), geb. 21. Mai 429 v. Chr. in Athen; sein Vater Ariston führte sein Geschlecht auf Kodros u. seine Mutter Periktione auf Solon zurück. Er erhielt eine ausgezeichnete Erziehung u. gründlichen Unterricht in der Grammatik, Musik, Malerei u. Gymnastik u. erlangte in letzter solche Fertigkeit, daß er selbst in den Isthmischen u. Pythischen Kampfspielen mit um den Preis zu ringen vermochte. Auch Poesie war ein Gegenstand seiner jugendlichen Beschäftigungen, doch ist von seinen Versuchen in der dithyrambischen, epischen u. tragischen Poesie, außer einigen (zweifelhaften) kleinen Gedichten in epigrammatischer Form, meist erotischen Inhalts, welche in der griechischen Anthologie aufgenommen sind, nichts übrig geblieben. Indessen wandte sich P. zeitig der Philosophie zu; am meisten fruchtete hier der lehrreiche Umgang mit Sokrates, welchen P. von seinem 20. Jahre 10 Jahre lang benutzte. Nach Sokrates' Tode (400 v. Chr.) verließ P. Athen, wo er sich unter der Herrschaft einer zügellosen Demokratie nicht mehr heimisch fühlte, u. wandte sich zuerst nach Megara, wo um dieselbe Zeit Euklides eine Philosophenschule gestiftet hatte, dann nach Kyrene, wo er den Mathematiker Theodoros hörte, u. nach Ägypten, Italien u. Sicilien, wo er von Dion gastlich aufgenommen wurde, wo ihn aber einige freimüthige Äußerungen gegen den älteren Dionysios beinahe das Leben gekostet hätten. Aus einer kurzen Sklaverei, welche er hier erdulden mußte, kaufte ihn Annikeris aus Kyrene los. Nach seiner Rückkehr nach Athen, 388, trat er in der Akademie als Lehrer auf u. erlangte hier bald ein solches Ansehen, daß selbst Feldherren u. Staatsmänner (Timotheos, Phokion, Hyperides, Demosthenes) seine Vorträge besuchten. 367 ging er abermals nach Sicilien, durch Dion zum jüngeren Dionysios gerufen, um denselben zum Philosophen zu bilden, doch der Sturz Dions brachte ihn in eine mißliche Lage, u. er ging 365 wieder nach Athen. Er folgte 361 einer wiederholten Einladung an den Hof von Syrakus, aber neue Gefahren drohten ihm von der Grausamkeit des Tyrannen, u. nur auf Fürsprache des Archytas erlangte er 360 die Erlaubniß zur Rückkehr nach Athen. Seine letzten Jahre verlebte er in Athen, durch Lehre u. Schriften noch bis zu seinem höchsten Alter nützlich; er st. 348 v. Chr. Die von ihm gestiftete Schule setzte sein Schwestersohn Speusippos fort. Seine Schriften (darunter 35 Dialoge [wenn Ältere 57 nennen, so sind die 12 Bücher der Gesetze u. die 10 vom Staate als einzelne Dialoge gezählt]), sind in den Ausgaben verschieden geordnet; in ältester Zeit ordnete man sie in 9 Tetralogien (so Thrasyllos u. wieder Hermann) od. in 6 Syzygien; in neuerer Zeit entweder nach dem Inhalte u. der philosophischen Entwickelung P-s, wie Schleiermacher, od. nach der Einkleidung u. philosophischen Form, wie Ast, od. nach der Reihenfolge der Abfassung u. dem Inhalte zugleich, wie Stallbaum, welcher sie deshalb in drei Klassen (bis zur Zeit des Todes des Sokrates, bis zur zweiten Reise nach Sicilien u. bis zu seinem Tode) theilte. Gesammelt erschienen sie zuerst griechisch, herausgeg. von Aldus Manutius, Vened. 1515, mit Commentar von Proklos, Basel 1534, verbesserte Ausgabe ebd. 1556; von H. Stephanus, Par. 1578; von Ast, Lpz. 1819–27, 9 Bde.; griechisch u. lateinisch von I. Serranus übers., Par. 1578, 3 Bde., Fol.; von Mars. Ficinus übersetzt, Lyon 1590 Fol. u. ö.; Zweibrücken 1786, 8 Bde., 11 Bde.; Lpz. 1813– 1819, 12 u. 10 Bde., ebd. 1819–30, u. von I. Stallbaum, ebd. 1821–25, 12 Bde., n.A. Gotha 1853 ff., von Imm. Becker, Berl. 1816–23, Lond. 1826; von Baiter, Orelli u. Winckelmann, Zürich 1839–42; von K. Fr. Hermann, Lpz. 1851 f.; von Schneider u. Hirschig, Par. 1851–54, 2 Bde.; lateinisch nach Übersetzung von Mars. Ficinus, Vened. 1491, Fol. u. von Sam. Grynäus verbessert, Bas. 1532, Fol. u. mehrm., noch Vened. 1581, Fol. u. ö., von Jan. Cornarius übersetzt, Bas. 1561, Fol.; deutsch von I. K. Kleucker, Lemgo 1778–97, 6 Bde.; von F. Schleiermacher, Berl. 1804 ff., 5 Bde., 2. Aufl. 1817–28, 6 Bde., u. von Hieron. Müller (mit Einleitung von Steinhart), Lpz. 1850 ff, 6 Bde. Einzelne Werke: a) Dialoge: Alkibiades I. (daß der dünkelhafte junge Mensch zum Staatslenker nicht geeignet sei) u. Alkibiades II. (vom Gebete, wahrscheinlich unecht), herausgeg. von L. Nürnberger, Lpz 1796; Apologie des Sokrates, Löwen 1529 u. ö., herausgeg. von F. A. [196] Wolf, Lpz. 1828, von F. Turot, Par. 1806; Axiochos (von der Verachtung des Todes), von I. F. Fischer, Lpz. 1758; Charmides (von der Besonnenheit); Epinomis s. Philosophus (als Zugabe zu der Schrift von den Gesetzen, od. als 13. Buch derselben angenommen, unecht, nach Einigen von Philipp Opuntius), Par. 1573; griechisch, ebd. 1548 u. ö., von Beurer, Bas. 1586, deutsch von I. G. Schlosser, Königsb. 1795; Erastä (von der Philosophie, wahrscheinlich unecht), von I. I. Stutzmann, Erl. 1806, auch 1818; Euthydemos (über die Sophismen der Eristiker); Euthyphron I. (von der Begriffslosigkeit in der Auffassung der Frömmigkeit), von T. Victor, Marb. 1596; Euthyphron II. (über die Gottseligkeit), von I. G. Schlosser, Bas. 1786; Gorgias (wie politisch gefährlich die sophistische Redekunst sei), von L. Hörstel, von Ch. Findeisen, Gotha 1796, deutsch, Zürich 1775; Hipparchos (von der Gewinnsucht, wohl unecht), Hippias I. (vom Schönen) u. Hippias II. (ob die Lüge besser sei als die Wahrheit?); Ion (über die poetische Begeisterung), von M. G. Müller, Hamb. 1782; Klitophon (das Gastmahl u. von der Liebe, wohl unecht); Kratylos (ob die Wörter mit den Anhängern des Parmenides als natürliche Erscheinungen od. mit denen des Heraklitos als willkürliche Zeichen zu behandeln sind?), Löwen 1523 u. ö., von I. F. Fischer, Lpz. 1792–99; Kritias (von der Insel Atalantis); Kriton (von der Bürgerpflicht), von F. Böckh, Augsb. 1785, deutsch von G. Ch. F. Böckh, ebd. 1829, 2. Aufl.; Laches (über die Schwierigkeit den Begriff der Tapferkeit zu bestimmen); Lysis (von der Liebe u. Freundschaft, eine Jugendarbeit, wird von Einigen für unecht gehalten); Menexenos (eine Leichenrede der Aspasia auf mehre für das Vaterland gefallene Athener), herausgeg. von I. C. Gottleber, Lpz. 1782; Menon (über die Lehrbarkeit der Tugend); Minos (vom Wesen der Gesetze), Par. 1558, von Stallbaum, Lpz. 1827; Thucydidis et Demosthenis funebres orationes, Vened. 1549, von E. Bentham, Oxf. 1746 u. ö.; Parmenides (was Parmenides von der absoluten Einheit u. Entstehung der Welt lehre), von I. G. Thomson, ebd. 1728, deutsch von I. K. Götz, Augsb. 1826; Phädon (von der Unsterblichkeit der Seele), Par. 1553, Halle 1790, 1819, von Büchling, Halle 1804, von F. Ast, Lpz. 1810, Münch. 1829, von G. F. Grosse, Halle 1828, von Wyttenbach, Leyd. 1810, von Heindorf, Berl. 1810, deutsch von I. Ph. Köhler, Lübeck 1769, von Ortleb, Lpz. 1771, von Kuhnhardt, Lübeck 1817; Phädros (über die Schönheit), Rostock 1572, von F. Ast, Lpz. 1810, deutsch (mit dem Symposion) von F. Ast, 1817; Philebos (von der Glückseligkeit), von G. Stallbaum, Lpz. 1820, n.A. 1826; Politikos (von der Regierungskunst u. der göttlichen Vorsehung), Par. 1548; Protagoras (von der Lehrbarkeit der Tugend nach sophistischen Begriffen), von L. I. F. Heindorf, 1810, deutsch von I. K. Götz, Augsb. 1828; Sophistes (über den eleatischen Begriff des Seins); Symposion (von der Liebe zur Tugend als der einzigen u. wahren Schönheit), von A. Wolf, 1782, n.A. 1829, von Ch. L. Sommer, Rudolst. 1820, deutsch von G. Schulteß, Zür. 1782, 2. Aufl. 1828; Theätetos (über den Begriff der Wissenschaft), Strasb. 1567; Theages (von der Weisheit, wahrscheinlich unecht), Par. 1551; Timäos (die Entstehung der Welt nach Pythagoras), ebd. 1532 u. ö., von A. F. Lindau, Lpz. 1828, deutsch von C. I. Windischmann, Hadamar 1804; Dialogi, von Bekker, Berl. 1816–18, 8 Bde.; Dialogi selecti, von L. F. Heindorf, ebd. 1802– 10, 4 Bde., von G. Stallbaum, Gotha 1827, 3 Bde.; Auserlesene Gespräche, deutsch von F. L. Graf von Stollberg, Königsb. 1796, 97, 3 Bde. b) Briefe (13 an der Zahl, moralischen Inhalts; c) 12 Bücher von den Gesetzen, Helmst. 1594, von F. Ast, Lpz. 1815, 2 Bde., deutsch von I. G. Schulteß, Zür. 1785–1787, 2 Bde.; d) Politeia (10 Bücher von der Gerechtigkeit, das Ideal einer Staatsverfassung), von F. Ast, Lpz. 1814, 2. Aufl., Jena 1820, von I. I. Stutzmann, Erlang. 1805, 1818; von K. E. Christ. Schneider, Lpz. 1830–33, 3 Bde., deutsch von F. C. Wolf, Altona 1799, 2 Bde., von G. Fähse, Lpz. 1800, 2 Bde., von Schneider, Berl. 1842. Auch werden dem P. beigelegt: Eryxias (vom Reichthum), Halkyon (über die Verwandlung), Sisyphos, Axiochos (über den Tod), Demodokos, Ὅροι (Bestimmungen), περὶ ἀρετῆς (von der Tugend). Über P-s Leben. u. Schriften überhaupt vgl. Remarks on the life and writings of Plato, Edinb. u. Lond. 1760, deutsch von L. Morgenstern, Lpz. 1797; Fr. Ast, P-s Leben u. Schriften, ebd. 1816. Eine Chrestomathia Platoniana gab E. Ch. Müller, Zür. 1756, u. F. W. I. Dillenius, Winterthur 1782, heraus. Die Scholien zu P. gab heraus Ruhnken, Leyden 1800. Wörterbuch zu P-s Schriften von Timäos (s.d. 3).

Platons Philosophie (Platonische Philosophie) ist in ihren Motiven u. ihrer Ausführung nicht auf den verhältnißmäßig ziemlich engen Gedankenkreis seines Lehrers Sokrates beschränkt, sondern weil die Probleme der theoretischen Speculation ihn eben so lebhaft beschäftigten, als ethische Fragen, u. er zugleich aus der Schule des Sokrates die Überzeugung mitgebracht hatte, daß das begriffsmäßige Denken das Mittel für die Lösung mit Beantwortung dieser Probleme u. Fragen sei, so erstreckten sich seine Untersuchungen gleichmäßig auf die Dialektik, Physik u. Ethik, u. die Alten rühmen an ihm, daß er der Sache nach der Urheber der Unterscheidung dieser drei Haupttheile der Philosophie gewesen sei. Die allgemeinste Frage der theoretischen Speculation hatte in der vorsokratischen Periode durch Parmenides u. Heraklitos (s. b.) in der Lehre vom absoluten Sein u. vom absoluten Werden eine direct entgegengesetzte Beantwortung gefunden. Für P. war nun der Satz ein Axiom: wenn nichts in Wahrheit wäre, so könnte auch nichts erkannt werden; das schlechthin Werdende, niemals Seiende kann kein Gegenstand des Wissens sein; die Unveränderlichkeit des wahren Wissens setzt die Unveränderlichkeit des gewußten Gegenstandes voraus. Daß es nun ein wahres Wissen gebe, dafür fand er in der Evidenz der Mathematik u. in der Unerschütterlichkeit sittlicher Überzeugungen die Bürgschaft. Wenn daher die sinnliche Empfindung mit ihrer Veränderlichkeit durchaus kein wahres Wissen enthält (ein Satz, welchen P. der Lehre der Sophisten gegenüber mit der größten Sorgfalt auseinandersetzt), so kann das Wissen nur in den unveränderlichen Begriffen liegen, u. die Kunst des begriffsmäßigen Denkens, des reinen, von der sinnlichen Empfindung losgelösten Verfahrens mit Begriffen ist dem P. die Dialektik. Der Begriff aber ist Ausdruck des Seienden; wenn man also das; was die Dinge, ihre Eigenschaften u.[197] Verhältnisse in Wahrheit sind, erkennen will, so muß man die Begriffe davon scharf u. rein bestimmen; diese so bestimmten Begriffe, in so fern sie das bezeichnen, was wahrhaft ist, nannte P. Ideen, daher man seine philosophische Grundansicht die Ideenlehre nennt. Die Platonischen Ideen sind daher keineswegs blose Vorstellungen des denkenden Subjects od. Vernunftbegriffe im Sinne der modernen Philosophie, sondern sie sind die absoluten Wesenheiten, das Seiende in so fern es im Begriffe aufgefaßt wird, u. umgekehrt Begriffe, in so fern sie der adäquate Ausdruck des sich selbst gleichen u. unveränderlichen Seins sind. Es gibt daher nicht blos eine Idee der Schönheit, der Tugend etc., sondern auch eine des Thieres, der Gleichheit, des Stuhles etc., überhaupt von Allem, was in u. an der Sinnenwelt wahrgenommen u. auf einen logisch bestimmten Begriff zurückgeführt werden kann, u. die Ideenwelt (intelligible Welt) ist die Gesammtheit der Ideen selbst. In diesem doppelten Charakter der Ideen, daß sie allgemeine Begriffe u. absolute Wesenheiten sind, liegt nun der Grund der weiteren Entwickelung sowohl als Verwickelung der Platonischen Lehre. Zuvörderst übertragen sich die logischen Verhältnisse u. Beziehungen der Begriffe auf das Seiende; indem P. diesen Beziehungen, seiner eigenen Forderung des dialektischen Verfahrens gemäß, nachgeht, gewinnen die beiden Ideen des Seins u. des Guten für ihn eine so hervorragende Bedeutung, daß namentlich das Gute von ihm als dasjenige bezeichnet wird, was dem Seienden das Sein u. dem Erkennenden das Erkennen verleiht u. somit die gesammte Welt der Ideen abschließt u. trägt. Diese Stellung der Idee des Guten rechtfertigt die Ansicht, daß P., so oft er auch von den Göttern in mehr populärer Weise spricht, in ihr den wissenschaftlichen Ausdruck für den Begriff Gottes gesucht hat. Zweitens bleibt durch die gesammte intelligible Welt der Ideen, deren jede ist, was sie ist, die Veränderung u. der Wechsel der Sinnenwelt, in deren sich keine der Ideen rein u. unvermischt mit fremdartigen Zusätzen darstellt, unbegriffen. P. nimmt daher, der Ideenwelt gegenüber, noch etwas an, was zwischen dem Sein u. dem Nichtsein in der Mitte schwebt, den Stoff, die Materie; in ihr liegt der Grund der unvollkommenen Darstellung der Ideen u. der Veränderlichkeit der Sinnenwelt. So erscheint ihm die Welt u. die Dinge in ihr als eine Nachbildung der in den Ideen liegenden Musterbilder; die Dinge sind, was sie sind, durch die Theilnahme an den Ideen; aber der niemals ganz zu überwindende Widerstand der Materie beraubt diese Nachbilder der in den Ideen liegenden Reinheit u. Unveränderlichkeit. Und wie die Idee des Guten in der Ideenwelt die oberste Stelle einnimmt, so ist die vorliegende Welt ein Werk der neidlosen Güte Gottes. Ohne in dieser Beziehung auf strenges Wissen Anspruch zu machen, schildert P. im Timäos die Bildung der Welt als eines lebendigen beseelten Wesens u. der sie durchdringenden Weltseele; in dieser Schilderung, welche er ziemlich weit ins Einzelne verfolgt u. welche man als seine Kosmologie bezeichnen kann, herrschen durchaus teleologische Gesichtspunkte vor; auf die eigentlichen Naturursachen legt P. nur ein geringes Gewicht. Dieselbe Idee des Guten nun, welche zugleich das absolut Seiende u. das absolut Werthvolle bezeichnet, ist auch der Gegenstand alles dem Werthvollen zugewendeten Begehrens u. Wollens, der Gegenstand einer Liebe, welche den Menschen zu der Quelle der reinsten Befriedigung, des höchsten Glückes hinzieht. Darin liegt der Grundgedanke der Platonischen Ethik, für deren wissenschaftliche Gestaltung P. überhaupt dadurch das größte Verdienst hat, daß er den Gegensatz zwischen der Luft u. dem Guten in Begriffen auseinanderzusetzen wenigstens versuchte. Der Mensch erscheint ihm als ein Doppelwesen, welches seinem materiellen Theil nach in den Banden der Luft, wie der sinnlichen Anschauung liegt, seinem vernünftigen, dem Göttlichen verwandten Theil nach in seinem Denken u. Wollen von der Sinnenwelt loszukommen sucht; daher P. die Philosophie überhaupt oft als eine Flucht vor dem Sinnlichen u. als eine dem Göttlichen, sich immer Gleichbleibenden u. absolut Werthvollen sich zuwendende Gemüthsrichtung bezeichnet. Im Zusammenhange damit bewegt sich die Psychologie P-s hauptsächlich auf der Grundlage der Unterscheidung dreier Theile der Seele, des sinnlich empfindenden u. begehrenden, des vernünftig denkenden u. wollenden u. des zwischen beiden in der Mitte stehenden, bald auf die eine, bald auf die andere Seite sich neigenden, welchen P. Thymikon nannte, wohin die Affecte u. leidenschaftlichen Erregungen gehören, welche zugleich Muth u. Thatkraft bedingen. Die sittliche Aufgabe ist die Herrschaft des vernünftigen Seelentheils über den sinnlichen, unvernünftigen; darin besteht das sittliche Gut, welches der Mensch durch die Übung der Tugend ergreift, deren allgemeinen Begriff P. in die der Weisheit, der Tapferkeit, der Besonnenheit u. der das richtige Verhältniß dieser drei bezeichnenden Dikäosyne (wofür das deutsche Wort Gerechtigkeit keine angemessene Übersetzung ist) zerlegte u. dadurch der Urheber der Unterscheidung dieser die antike Ethik bis auf die Stoiker herab beherrschenden sogenannten Cardinaltugenden wurde. Dieselbe sittliche Aufgabe, welche der einzelne Mensch hat, hat auch der Staat, gleichsam der Mensch im Großen; u. in den Büchern vom Staat (Politeia) hat P. ausgeführt, wie er sich die vernünftige Gestaltung des Staatslebens, gleichviel ob als reines Ideal, od. mit Beziehung auf die politischen Zustände seines eigenen Volkes, dachte. Auf den Gedanken gestützt, daß nur wahre geistige Bildung u. hohe Sittlichkeit zur Herrschaft geeignet mache u. berechtige, u. daß bei weitem nur die wenigsten Menschen diese Eigenschaften besitzen, unterscheidet er drei den Theilen der Seele entsprechende Klassen der Mitglieder des Staates, die nach äußerem Erwerb u. Genuß Strebenden, die intellectuell u. sittlich Gebildeten u. die in der Mitte zwischen beiden Stehenden, die als Helfer der Letzteren, zur Herrschaft Auserlesenen, als Wächter der öffentlichen Ordnung dem herrschenden Stande zur Seite stehen sollen. Der Platonische Herrscher, der wahrhaft königliche Mensch, ist die verkörperte Intelligenz u. Sittlichkeit, welchem P. eine selbst nicht an geschriebene Gesetze gebundene Autorität gerade deshalb übertragen wissen will, weil von ihm Freiheit von allen Privatinteressen mit Sicherheit erwartet werden könne; daher denn P., wie überhaupt, so auch namentlich rück sichtlich der zur künftigen Herrschaft Berufenen, auf die sorgfältigste Erziehung das größte Gewicht legt u. das Heil des Staates überhaupt weniger von äußeren Einrichtungen, als von der sittlichen Bildung seiner Mitglieder erwartet. Manche Züge der[198] Platonischen Republik haben für die moderne Auffassung etwas Fremdartiges u. selbst Verletzendes, so z.B. die für den herrschenden Stand geforderte Auflösung des Familienlebens (Gemeinschaft der Frauen u. Kinder, Überwachung der Kindererzeugung, Aussetzung unkräftiger Kinder), die Ausweisung der Dichter aus dem Staate, die Staatsaufsicht auf die musikalischen Tonweisen etc.; gleichwohl ist der Grundgedanke, daß Macht, Einsicht u. sittliches Wollen im Staate zusammenfallen müssen, welchen P. in dem Gedanken ausspricht: so lange nicht die Philosophen Könige werden od. die Könige richtig philosophiren, ist kein Ende des Unglücks in den Staaten abzusehen, eine von den Wahrheiten, welche die Geschichte immer von neuem bestätigt. In so fern ist der Platonische Staat kein leeres Ideal, sondern weist auf eine der Grundbedingungen eines vernünftigen Staatswesens hin. Vgl. Tennemann, System der Platonischen Philosophie, Lpz. 1792 f., 4 Bde.; Ph. W. van Heusde, Initia philosophiae Platonicae, Utrecht 1827–36, 3 Bde.; K. Fr. Hermann, Geschichte u. System der Platonischen Philosophie, Bd. 1, Heidelb. 1839; Fr. Susemihl, Die genetische Entwickelung der Platonischen Philosophie, Bd. 1, Lpz. 1855; E. Alberti, Zur Dialektik des P., ebd. 1855; Fr. Michelis, Die Philosophie P-s in ihrer Beziehung zur geoffenbarten Wahrheit, Münster 1859; I. I. Wagners Wörterbuch der platon. Philosophie, Gött. 1799. Über die Schule P-s u. ihre innnere Umbildung s. Akademie 2), über die in den ersten Jahrhunderten n.Chr. erfolgte eigenthümliche Verschmelzung der Platonischen Lehre mit einer religiös-philosophischen Mystik s. Neuplatoniker. Im 15. Jahrh., in der Zeit der sogenannten Wiederherstellung der Wissenschaften, erweckte das Studium der Platonischen Schriften, der langen ausschließlichen Herrschaft des Aristoteles gegenüber, eine schwärmerische, zugleich zum Neuplatonismus sich hinneigende Begeisterung, so daß am Hofe der Mediceer in Florenz 1440 eine Platonische Akademie unter dem Vorstand des Mars. Ficinus gegründet wurde. Das eingehende Verständniß der von der Liebe zum Wahren, Schönen u. Guten tief durchwärmten, aber in ihrer Grundlage, wie in ihrer Ausführung durchaus nüchternen Untersuchungen P-s, ist erst im 19. Jahrh. deutschem Scharfsinn gelungen.


Pierer's Lexicon. 1857–1865.

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